Eine überflüssige Angst
| Ulrich DehnerIn der Introvision, um das noch einmal kurz zusammengefasst darzustellen, geht es darum, genau das, was einem Angst macht, Stress bereitet oder in welcher Hinsicht auch immer beeinträchtigt, zunächst herauszuarbeiten und schließlich in einem Satz zu bündeln, der zum Ausdruck bringt, was die inneren Alarme anspringen lässt. Mit diesem Satz wird der Klient konfrontiert. Die Alarme, die dadurch ausgelöst werden, werden dann vom Klienten in einer Haltung der wertungsfreien, rein beobachtenden Achtsamkeit wahrgenommen. Diese innere Haltung hat der Coach mit dem Klienten so lange geübt, bis er bereit war, sie einzunehmen und sich seinen Alarmen zu stellen. Der Klient beobachtet so lange, wie es ihm möglich ist, aber höchstens etwa zehn Minuten, was sich bei ihm auf körperlicher, mentaler und emotionaler Ebene abspielt, ohne darauf zu reagieren. Danach bewertet er die Stärke des Alarms auf einer Skala von eins bis zehn, spricht mit dem Coach über seine Erfahrungen und begibt sich in ein zweites Setting, nachdem er wieder die Höhe seines Alarms einschätzt. Meist hat sie sich beim zweiten Mal schon reduziert.
In dem Praxisbeispiel, das hier geschildert wird, geht es um eine Studentin, die vor einer wichtigen Prüfung so starke Symptome einer Prüfungsangst entwickelt hatte, dass sie, im wahrsten Sinne des Wortes, alles nur noch zum Kotzen fand. Das heißt, sich wachte nachts auf, dachte an ihre Prüfung und erlitt Panikattacken, die so heftig waren, dass sie sich übergeben musste.
Solche Reaktionen waren neu für sie, denn ihr Abitur hatte sie problemlos gemanagt, doch mit dem anspruchsvollen Studium, das sie sehr forderte und in dem viele Kommilitonen das Nichtbestehen von Prüfungen erlebten, begannen auch die Ängste.
Diese Ängste wollte sie zunächst dadurch in den Griff bekommen, dass sie versuchte, sich zu beruhigen, sich zu sagen: „Das wird schon gutgehen, du hast doch schon etliche Prüfungen bestanden“ und ähnliche aufbauende Sätze, die jedoch entweder gar keine oder nur sehr kurzfristige Wirkung zeigten. Ihr Umfeld reagierte so positiv und aufbauend wie möglich, auch mit der Versicherung, es sei doch gar nicht tragisch, durch eine Prüfung zu fallen und sie solle sich doch einfach entspannen. Doch auch all diese guten Ratschläge und Ermunterungen halfen ihr nicht weiter., genauso wenig wie die Versuche ihrer Freunde, sie abzulenken.
Unter dem Aspekt der Introvisionstheorie ist das nicht verwunderlich. Mit genau solchen Mitteln und Methoden versucht der menschliche Verstand, ein Problem kurzzeitig zu lösen, die jedoch eher Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung.
Als sie in die Sitzung kam, wurde als erster Imperativ herausgearbeitet „Ich darf nicht durch die Prüfung fallen“. Daraus wurde der Alarm auslösende Satz abgeleitet „Es kann sein, dass ich durch die Prüfung falle“. Wir haben in der Achtsamkeitsübung auch mit diesem Imperativ begonnen, obwohl ihr selbst sehr schnell klar wurde, dass es einen weiteren Imperativ gab.
Wir haben jedoch, wie gesagt, die Arbeit mit dem ersten Imperativ begonnen. Nachdem die Klientin gelernt hatte, wie ihre innere Haltung sein sollte, rein konstatierend, nicht beurteilend, nur offen wahrnehmend, wurde sie von mir also angewiesen, mit dem Satz „Es kann sein, dass ich durch die Prüfung falle“ in die innere Wahrnehmung zu gehen. Dieser Satz hat bei ihr sofort körperliche Auswirkungen ausgelöst: Ihr brach Angstschweiß aus, es wurde ihr sehr warm im Bauch, sie fühlte sich unwohl. Es war deutlich erkennbar, dass dieser Gedanke unmittelbar ihr inneres Alarmsystem zum Heißlaufen brachte.
Nachdem sie fünf bis zehn Minuten mit dem Gedanken „Es kann sein, dass ich durch die Prüfung falle“ sitzen konnte und ihr Erregungslevel dabei stetig abnahm, tauchte der zweite wichtige Imperativ bei ihr auf: „Ich darf andere nicht enttäuschen“.
Ihr wurde klar, dass ihre eigentliche Angst nicht vor dem Scheitern in dieser Prüfung besteht, sondern darin, ihr nahestehende Menschen zu enttäuschen.
Da ihre akute Prüfungsangst während des Sitzens mit dem Gedanken „Es kann sein, dass ich durch die Prüfung falle“ schon sehr viel geringer geworden war, nahmen wir uns als nächstes den zweiten Imperativ vor. Sie wandte sich wiederum der inneren Wahrnehmung zu, diesmal mit dem Satz „Es kann sein, dass ich andere enttäusche“.
Auch dieser Satz löste massive körperliche Reaktionen aus. Sie spürte sofort einen Kloß im Hals und bekam Atemprobleme. Doch konnte sie auch mit diesem Satz die wertfreie Beobachtung etwa fünf Minuten durchhalten. Und nachdem sie die Übung mehrere Male wiederholt hatte, fühlte sie sich etwas besser damit.
Als Hausaufgabe sollte sie die Übungen täglich für fünf bis zehn Minuten mit beiden Sätzen wiederholen. Sechs Wochen später fand unsere zweite Sitzung statt, bei der sie berichten konnte, dass sie keine Anfälle von Übelkeit und Erbrechen mehr hatte. Wenn sie an die bevorstehende Prüfung dachte, führte dies lediglich zu einer leichten Nervosität. Als sie während der Sitzung die nächste bevorstehende Prüfung visualisierte, kam es nur noch zu einer leichten Erregung, die sich sehr schnell aufgelöst hat.
Ihr „Alarmsystem“ war ganz offenbar dauerhaft deaktiviert, sodass Prüfungen nur noch so viel Nervosität verursachten, die es braucht, um genügend Adrenalin für den entscheidenden Moment zur Verfügung zu haben.