Warum das Großhirn hinterher hinkt

| Ulrich Dehner
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Seit vier Jahren arbeitet Maria M. nun schon in der Kundenbetreuung und die Arbeit macht ihr großen Spaß. Sie ist intelligent, charmant und witzig, das kommt ihr auch im Umgang mit schwierigen Kunden zugute. Im allgemeinen hat sie überhaupt kein Problem, auch nicht damit, sich gelegentlich gegen zu hohe Ansprüche durchsetzen zu müssen. Darum ist es ihr umso unbegreiflicher, weshalb sie mit Herrn Schmitt überhaupt nicht klarkommt.

Sie und Herr Schmitt hatten, wie das so schön heißt, keinen guten Start miteinander: Er war verärgert und machte sie am Telefon dafür zur Schnecke. Seither fühlt sie sich wie ein kleines Mädchen, wenn sie am Telefon nur seine Stimme hört. Das macht sie ziemlich unsicher, sie fühlt sich von Herrn Schmitt nicht ernst genommen. Davon ist sie so beeinträchtigt, dass ihre ganze Schlagfertigkeit beim Teufel ist, von Charme und Witz kann bei ihren Telefonaten mit ihm keine Rede sein. Inzwischen erkennt sie seine Nummer auf dem Display und schon geht es los: Ihr Magen verkrampft sich und sie kann nur noch unsicher und angepasst reagieren.

Sie ärgert sich über sich selbst, aber nichts, was sie bisher probiert hat, um dieses „dämliche Verhalten“, wie sie es nennt, abzustellen, war erfolgreich. Zuerst versuchte sie, leidenschaftslos zu analysieren, warum sie ausgerechnet mit diesem Kunden nicht klarkam. Sicher, es hatte schon einige unangenehme Gespräche mit ihm gegeben, er war ihr sehr „von oben herab“ entgegengekommen - aber das allein erklärte nicht, weshalb sie sich so mies fühlte. Dazu kam noch, dass der Kunde keineswegs zu den wichtigsten des Hauses zählte, weshalb auch ihr Chef ihr den Rücken stärkte, und sie ermunterte, sich von Herrn Schmitt nicht alles gefallen zu lassen. Aus diesem Grund legte sie sich Verhaltensstrategien fest, wie sie beim nächsten Telefonat auf ihn reagieren wollte und ließ sich dazu auch von einem Coach beraten. Der gab ihr wertvolle Hinweise, wie sie auch auf der Körperebene etwas ändern könne, um sich in eine andere Gefühlslage zu bringen.

Doch leider nützte das alles nichts. Sie brauchte nur die Stimme von Herrn Schmitt zu hören, um sich wieder wie ein kleines Mädchen zu fühlen. Bei ihrer Selbstanalyse war es ihr vorher schon gelungen, eine Verbindung ihres Verhaltens zu ihrer Lebensgeschichte herzustellen: Genauso wie jetzt mit Herrn Schmitt hatte sie sich in der Schule einem bestimmten Lehrer gegenüber gefühlt, der sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, dieses intelligente und etwas aufmüpfige Mädchen „in seine Schranken“ zu weisen. Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs hat sie zwar erleichtert, doch verändert hat sie leider nichts. Auch als sie wusste, woher ihre Gefühle kommen, konnte sie sie nicht abstellen.

Das wird verständlich, wenn man sich das Wesen von inneren Alarmen klarmacht, denn das war es, was Maria erlebte. Jedes Mal, wenn sie es mit Herrn Schmitt zu tun hatte, wurde bei ihr ein Alarm ausgelöst, der zur Ausschüttung von Stresshormonen führte, die wiederum ein ganz bestimmtes Verhalten nach sich zogen.

Der Alarmzustand, in den jemand wie im obigen Beispiel geraten kann, war als Stressreaktion in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit überlebenswichtig. Der Alarm wird durch unangenehme oder traumatische Erlebnisse in der Amygdala installiert. Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems, das Informationen aus dem Organismus und Botschaften von außen verarbeitet und sie bewertet. Der Alarm warnt: „Achtung - höchste Gefahr! Diese Situation ist unter allen Umständen zu vermeiden!“ Und dieser Alarm wird in Zukunft immer dann sofort anspringen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Situation genauso entwickelt, wie es der vorangegangenen Erfahrung nach unter keinen Umständen sein darf.

Überlebenswichtig war das einst, weil die von der Amygdala initiierte augenblickliche Ausschüttung von Stress-Hormonen den Menschen in die Lage versetzte, von Null auf Hundert Höchstleistungen zu erbringen, zum Beispiel um zu fliehen oder zu kämpfen. Die Amygdala ist auf Grund ihrer Bedeutung für das Überleben viel schneller, als es das Großhirn jemals sein kann, sie entscheidet im Bruchteil von Sekunden, ob eine Gefahr für den Menschen besteht oder nicht und alarmiert daraufhin andere Gehirnareale. Da das so ist, springt der Alarm mit all seinen Wirkungen und Nebenwirkungen viel schneller an, als das Großhirn seine „vernünftigen, sachlichen“ Gegenargumente, so berechtigt sie auch sein mögen, ins Spiel bringen kann. Das Großhirn, in dem unsere Ratio beheimatet ist, hinkt immer hinterher. Der Alarm kann körperliche, mentale und emotionale Auswirkungen hervorbringen. Und er kann, wie im Fall von Maria, dazu führen, dass man augenblicklich mental in die alte, belastende Situation mit all den Gefühlen von Ausgeliefertsein zurückversetzt wird. Ihr damaliges „überlebenswichtiges Verhalten“ bestand darin, sich klein zu machen und ganz angepasst und unterwürfig zu reagieren.

Dass unser Großhirn mit all seinem Wissen, seinen Überlegungen, seinen Argumenten nicht mehr viel ausrichten kann, weil die Amygdala schneller reagiert, erklärt auch, weshalb eine rein kognititve Aufarbeitung schwieriger, belastender Erfahrungen meistens keine dauerhaften Ergebnisse zeitigt. Der innere Stresszustand zwingt den Menschen, sich auf eine ganz bestimmt Art und Weise zu verhalten, selbst wenn das sogar in seinen eigenen Augen gar keinen Sinn macht. Sobald der Trigger, im Beispiel die Stimme von Herrn Schmitt, wahrgenommen wird, reagiert Maria reflexhaft, wie die Amygdala es „empfiehlt“ oder „befiehlt“, und nicht rational und überlegt, wie das viel langsamere Großhirn das empfiehlt.

Hinzu kommt, dass sich einerseits bei Maria inzwischen natürlich auch eine gewisse Erwartungshaltung breit gemacht hat: „Das wird wieder ganz schrecklich“, und dass ihr Verhalten andererseits auch eine Art „Einladung“ an Herrn Schmitt darstellt, sich dominant, arrogant und Oberlehrerhaft aufzuführen. Kommunikation ist ja keine Einbahnstraße. Jeder wird schon die Erfahrung gemacht haben, dass sich merkwürdigerweise der Gesprächspartner anders verhält, wenn man selbst seine Einstellung ihm gegenüber verändert.

Genau diese Erfahrung machte auch Maria. Nachdem es ihr mit IntrovisionCoaching gelungen war, den Alarm zu löschen, konnte sie Herrn Schmitt gegenüber völlig anders auftreten - mit dem überraschenden Erfolg, dass sie einen sehr offenen und wertschätzenden Umgang miteinander gefunden haben.