Radikal Weise oder doch nicht?

| Alice Dehner
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Als ich kürzlich Besuch von meinen beiden Enkeltöchtern hatte, unternahmen wir drei Damen eine kleine Schiffsrundfahrt auf dem Bodensee. Leider hatten wir die Abfahrtszeit des Schiffchens knapp verpasst und mussten deshalb relativ lang (jedenfalls für eine Drei- und eine Fünfjährige) auf das nächste warten. Wir setzten uns dazu auf eine idyllische, schattige Bank am Steg, vor uns der herrlich blaue See, bevölkert mit Schwänen, Enten, Haubentauchern sowie den dazugehörigen entzückenden Küken, die die beiden quirligen Mädchen jedoch nur die kürzeste Zeit zu fesseln vermochten. Sie begannen, heftig auf der Bank herum zu turnen.

Meine ergriffene Kontemplation unserer paradiesischen Landschaft - „Kinder, ist das nicht unglaublich schön hier!“ - wurde empfindlich gestört, vor allem, weil die ältere der beiden Berliner Gören ohne Sinn für den Zauber der Natur sich nicht darauf beschränkte, die Bank als Grundlage ihrer Kletterkunststücke zu benutzen, sondern auch die großmütterlichen Schultern, die Arme, den Schoß und die Beine dazu zweckentfremdete. Ich bin ja hart im Nehmen und dafür, dass die lieben Kleinen nicht quengeln, bereit, einiges zu ertragen, aber irgendwann entfuhr es mir doch: „Schätzchen, kannst du nicht einfach mal ein bisschen still halten?!“ Meine Enkelin erwog diesen Vorschlag kurz, um dann ganz ernsthaft zu antworten: „Nein, Großmama, das geht nicht. Wenn ich still sitzen soll, werde ich immer so unruhig.“ Diesem Argument habe ich mich sofort gebeugt, denn es leuchtete mir unmittelbar ein - außerdem: Wenn sie schon im „Normalbetrieb“ so hibbelig ist, dann möchte man doch wahrhaftig nicht miterleben müssen, was passiert, wenn das Kind unruhig wird.

Beim Nachdenken über die analytischen Fähigkeiten einer Fünfjährigen, wurde mir klar, dass ich durchaus nachvollziehen kann, was sie meint, und dass es mir schließlich oft genug ganz genauso geht. Also, was ich meine ist, dass ich zum Beispiel nicht gut fasten kann, weil ich davon immer so hungrig werde. Vor allem in früheren Jahren war Fasten eine Zeitlang total angesagt - jedermann, der etwas auf sich hielt, pries es, weil es von Fußpilz bis Kropf alles heilte, und schön machte es angeblich auch - Entgiftung und so, Sie wissen schon. Aber die Nichtaufnahme von Essen ist doch mit einer erheblichen Einbuße an Wohlbefinden verknüpft, was in meinem Fall immer schon nach wenigen Stunden deutlich spürbar war. Deshalb ließ ich das Fasten, mit dem ich morgens ganz willensstark begann, auch spätestens am Nachmittag bleiben, obwohl ich von den gesundheitlichen und kosmetischen Vorzügen der Maßnahme absolut überzeugt war.

Es gibt noch andere Beispiele: Ich habe eine Bekannte, die hat beschlossen, nie mehr zu sparen, weil das so teuer ist. Sie hat gemerkt, dass ihr Konto immer dann in allerhöchster Gefahr schwebt, an Schwindsucht zu verenden, wenn sie den heldenhaften Beschluss gefasst hat, jetzt aber konsequent ihren Geldbeutel zuzuschnüren. Offenbar deprimiert sie das auf einer tiefliegenden unbewussten Ebene so schrecklich, dass sie ihrem üblichen heiteren Selbst mit einer ausgedehnten Shoppingtour wieder auf die Beine helfen muss.

Es lässt sich leicht ausmalen, dass, sagen wir mal Wladimir Putin, ihn nur mal so als Beispiel genommen für eine ganze Reihe Herren des gleichen Schlages, die im nahen und fernen Osten, in Amerika und Europa und überhaupt überall auf der Welt ihr erbärmliches Leben leben, eine vergleichbare Disposition aufweist: „Ich kann mich nicht friedliebend verhalten, das macht mich immer so aggressiv!“

Ach ja, wer von uns kennt das nicht in der einen oder anderen Variante: „Ich wäre sehr gern mutig, aber ich kann nicht, das macht mir immer so viel Angst“ oder „Ich wäre gern lieb, aber das Liebsein macht mich so böse“, „Ich wäre gern nachsichtig, aber das Nachgeben ärgert mich so.“ Wir wären alle gern gescheit und machen so viele Dummheiten, nicht wahr?

Was da zu tun ist, dafür habe ich leider auch keine Lösung. Der hochverehrte Laotse schlägt folgendes vor:

Was du zusammendrücken willst,

das musst du erst richtig sich ausdehnen lassen.

Was du schwächen willst,

das musst du erst richtig stark werden lassen.

Was du vernichten willst,

das musst du erst richtig aufblühen lassen.

Klingt erst mal weise, ist aber ziemlich radikal - ob ich mit den Konsequenzen dieser Maxime wirklich würde leben wollen? Ich wage es zu bezweifeln. Aber was, wenn wir gar keine Wahl haben? Dann stehen uns wahrhaft harte Zeiten bevor. Und apropos Zeiten - diese sind, entgegen anderslautender „gefühlter“ Wahrheiten keineswegs schlechter geworden. Aber bevor Sie jetzt vor Glück den Kopf verlieren, die Wahrheit ist: Die Zeiten waren schon immer schlecht. Israelische Forscher, so schreibt die Süddeutsche Zeitung am 17. Juni, haben gerade eine dreitausend (!) Jahre alte Inschrift in kanaanitischer Schrift auf einer antiken Vase entziffert: „Ischbaal wurde von Attentätern ermordet und geköpft, und sein Kopf wurde David nach Hebron gebracht.“ Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Nur dass die abgeschlagenen Köpfe heutzutage nirgendwo mehr hingebracht, sondern mittels Internet der ganzen Welt präsentiert werden.

Angesichts unserer Menschheitsgeschichte kommt mir der Verdacht, dass Laotse ein Träumer ohne Bezug zur Realität war - oder wie weit müssen wir die Gewalt noch aufblühen lassen, bevor sie vernichtet wird? Nein, nein, es war die Logik eines Träumers, dass es so einfach geht. Aber vor die Wahl gestellt, sich zwischen einem Realisten und einem Träumer zu entscheiden, wer wäre so blöd, den Realisten zu nehmen? „Schätzchen, sei doch einfach mal ein bisschen realistisch!“ - „Das geht leider nicht, wenn ich realistisch sein muss, werde ich immer so unglücklich.“ Dann nehmen wir doch lieber Laotse, den Träumer:

Zu den Guten bin ich gut,

zu den Nichtguten bin ich auch gut;

denn die Essenz des Lebens ist die Güte.
 

Wenn jetzt jemand „Amen“ sagen möchte - ist schon okay…

PS. Insgeheim hätte ich aber doch gern, dass die Nichtguten, die Vatermörder, die Mutterschänder sowie Menschen, die ihre Arbeitgeber betrügen, durch eine himmlische Gerechtigkeit zusammengedrückt werden, bevor sie sich noch mehr ausdehnen, Güte hin oder her.