Renates Kolumne: Hat hier irgendjemand was gegen Kitsch?

| Renate Dehner
Es ist doch so: Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Jetzt steht Weihnachten vor der Tür, aber es kann nicht in voller Pracht reinkommen, weil ein militantes Virus, gegen das die Polizei machtlos ist, noch sämtliche Räume illegal besetzt hat. Das einzige, was sich mühsam durch die höchstens spaltbreit geöffnete Tür quetschen kann, ist ein schwer abgemagertes Christkind, das noch eher an die am Kreuz hängende Leidensgestalt als an das propere Baby in der Krippe erinnert. Und die Hirten dürfen auch nicht kommen und lobpreisen, weil sie nicht aus einem Haushalt stammen. Von den heiligen drei Königen ganz zu schweigen, die kommen womöglich aus einem Risiko-Gebiet und müssen erstmal in Quarantäne.
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Aber wir lieben doch Weihnachten, Mensch! Selbst so eine Atheistin wie ich liebt Weihnachten. Erstens mal sowieso, wegen Glitter, Glimmer, Glamour, zweitens weil man im Winter einen Herzenstrost braucht, denn Kälte und Dunkelheit sind nicht gerade meine Lieblingszustände und drittens, und das seit zehn Jahren vor allen, allen Dingen (wieder, muss es hier natürlich heißen), weil fast nichts so viel Spaß macht, wie mit Kindern Weihnachten zu feiern. Fällt ja nun flach! Man ist schließlich vernünftig – also keine Reise nach Berlin, kein fröhliches Zusammentreffen mit Menschen, die man so sehr liebt, kein schräges „Oh Tannenbaum“, das man trotzdem jeder Arie von Ludovic Tézier vorzieht, und das will in meinem Fall wirklich was heißen, kein Kinderlachen und keine Anekdoten, wie sie nur Kinder hervorbringen können – alles erst mal perdu.

Keine Gelegenheit für unsere jüngste Enkeltochter, die Großeltern mal wieder dreidimensional und in echt zu erleben, sie kennt uns schließlich noch nicht so lange und so gut wie die beiden älteren Mädchen, da ergeben sich schon mal Missverständnisse. Unser Sohn fragte die Zweieinhalbjährige neulich, wo denn Großmama und Großpapa wohnen und sie antwortete: „In Skype“. Sie wusste eben nicht, dass das nur Großpapas Zweitwohnsitz ist, eigentlich wohnt er in Zoom. Möglicherweise kennt das kluge Kind ja auch den Ausspruch von Marc Zuckerberg: „Einst lebten wir auf dem Land, dann in den Städten und von jetzt an im Netz.“ Ich will aber nicht im „Netz“ leben, da ist man, wie der Name schon sagt, so unfrei und in den Händen von Firmen und Machenschaften, in deren Fängen man lieber nicht sein will. Ich will real und körperlich leben! Tja, also, dass man uns richtiggehend anfassen kann, diese Erfahrung wird die Kleine dieses Jahr zu Weihnachten nicht machen. Blödes Scheißkackmistvirus – entschuldigen Sie mein Französisch!

Jetzt könnte hier ein Satz stehen wie „Ich will ja nicht jammern, aber…“ und weiterklagen. Mach ich aber nicht. Ich schwinge mich stattdessen lieber auf zu einer flammenden Verteidigung lebensrettender Kitsch-Maßnahmen. Mir kann es gerade gar nicht Kitsch genug sein: Adventskalender, von denen leise der Glitzer rieselt, nostalgisches Weihnachtsgeschirr, das mehr als nur einen Hauch von „Es war einmal die gute, alte Zeit“ verbreitet, Kerzen in allen Größen und Umfängen, aber selbstverständlich nur in Rot-Tönen, Deko-Artikel, die einen Winter vorgaukeln, wie wir ihn seit Jahren nicht mehr hatten und wahrscheinlich nie wieder haben werden, große Sträuße aus Tannenzweigen, behängt mit funkelnden Sternen – aber alles geschmackvoll, versteht sich.

Sagen Sie jetzt nicht, Geschmack und Kitsch, das ginge gar nicht zusammen, damit beweisen Sie nämlich nur, dass Sie kein Herz haben. Irgendwie muss ich doch Weihnachten für mich retten… Wir werden also seit Jahren wieder einen eigenen Christbaum aufstellen und den werde ich mit so vielen Lichterketten behängen, dass er blendet und schräg „Oh Tannenbaum“ singen werden wir eben gemeinsam über … Skype! Schönen Advent und Fröhliche Weihnachten alle zusammen!