Renates Kolumne: Man kann alles übertreiben

| Renate Dehner
Wieviel Übertreibung ist noch statthaft und wann wird es lächerlich? Die pandemische Krise hat etliches an Äußerungen in der Presse und im Fernsehen hervorgebracht, vom Internet ganz zu schweigen (und da muss ich schweigen, denn dieses Medium nutze ich anachronistisch wenig), die man nur als überzogen bezeichnen kann. Ich hatte wahrhaftig schon mit dem Gedanken gespielt, eine Serie zu beginnen „Doofe Sprüche, auf die wir hätten verzichten können“. Da platzierte zum Beispiel „Die Zeit“ in ihrer Rubrik „Entdecken“ am 20. Mai unter der Überschrift „Mehr ist mehr“ die Unterüberschrift „Zu den ersten Opfern der Pandemie gehörte das Buffet“. Das ist eine so selten dämliche Aussage, das bedarf eigentlich keiner weiteren Kommentierung.
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Was mich wunderte, war der ausbleibende Shitstorm. Heutzutage wird doch für eigentlich viel harmlosere verbale Entgleisungen, oder was dafür gehalten wird, immer gleich ein Gang zu Canossa mit tausendfachem Mea Culpa, einer Selbstgeißelung und dem Gelöbnis, mindestens drei Jahre lang Sack und Asche zu tragen, verlangt. Wo blieb das Fähnlein der Aufrechten, das im Namen der vielen echten Opfer ein großes Krakeel anhub? Ich meine, wenn eine Politikerin sich schon kniefälligst dafür entschuldigen musste, dass sie aussprach, als Kind das Berufsziel „Indianerhäuptling“ gehegt zu haben, könnte man schon ein bisschen Shitstorm anpusten für die Taktlosigkeit in einem Spruch, der sehr viel dämlicher ist als die Äußerung der Politikerin. Andererseits ist jeder ausbleibende Shitstorm in heutiger Zeit zu begrüßen. Soziale Kontrolle in allen Ehren, aber im Moment scheint sie mir etwas aus der Balance geraten zu sein – ich sage nur „Übertreibung“.

Für eine weitere grobe Übertreibung nebst dummem Spruch halte ich es, angesichts eines verlorenen Schuljahres von der „lost generation“ zu sprechen. Ich bitte darum, mich nicht misszuverstehen. Ich war die erste, die sich darüber aufgeregt hat, was man den Kindern eigentlich antut, indem man Kitas und Schulen schließt. Und ich halte es auch nach wie vor für eine Schande, dass sich Kultusminister, Schulbehörden und Lehrer im Großen und Ganzen (es gab sicher rühmliche Ausnahmen) wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert haben. Aber nun Jugendliche und junge Erwachsene zu einer „lost generation“ zu stilisieren, weil sie ein gutes Jahr lang auf Discos, Partys und weiß der Geier was für Lustbarkeiten verzichten mussten, das ist, mit Verlaub, albern.

Ich habe mir die Mühe gemacht, bei einem meiner Lieblingsautoren, bei Harry Graf Kessler, nachzulesen, wie das eigentlich war, vor genau hundert Jahren. Für den Fall, dass es unglückliche Menschen gibt, die noch nie von Harry Graf Kessler gehört haben: Er war einer der interessantesten Männer, die die neuere deutsche Geschichte vorzuweisen hat, der in der Weimarer Republik als „der rote Graf“ ein Hassobjekt der Reaktionäre und der Nazis war. Geboren 1868 als Sohn eines steinreichen Bankiers, der erst einige Jahre nach Harrys Geburt vom ersten deutschen Kaiser den Grafentitel bekam, wuchs er sehr privilegiert auf, studierte Jura und war sowohl in der Kunst-Szene als auch in diplomatischen Kreisen ganz unglaublich gut vernetzt. Es gab in Deutschland, Frankreich, England keinen Politiker und keinen Künstler von Rang und Namen, den er nicht persönlich kannte. Als Kunst-Mäzen hat er Maler wie Edvard Munch, Bildhauer wie Aristide Maillol und Dichter wie Johannes R. Becher, neben vielen anderen, materiell unterstützt. Er förderte das Bekanntwerden der Impressionisten in Deutschland, was ihm kurioserweise eine Duell-Forderung einbrachte – sein Kontrahent fand die Werke der Impressionisten so skandalös, dass man Frauen und Kinder vor deren sittenlosen, unanständigen Bildern bewahren sollte. Aus dem Duell wurde allerdings nichts, der Kontrahent starb, bevor Graf Kessler ihn hätte totschießen können. Graf Kessler gründete außerdem in Weimar die „Cranach-Presse“, die einige der schönsten Bücher der damaligen Zeit herausbrachte. Und er schrieb - er schrieb und schrieb, in allererster Linie seine Tagebücher, die ganz unglaubliche Zeitzeugnisse sind, aber z.B. auch ein Buch über Mexico oder eine Rathenau-Biografie, die noch heute Maßstäbe setzt.

Außerdem schrieb er, und darauf wollte ich eigentlich hinaus, 1920 die Broschüre „Die Kinderhölle in Berlin“. Mit diesem Text wollte er auf das Elend der Arbeiterkinder in Deutschland aufmerksam machen, ganz besonders anrührend anhand von Bildern aus Berlin – ausgerechnet aus jenem Viertel, das heute fast der Inbegriff des „hippen Berlin“ ist, aus dem Prenzlauer Berg. Er beschreibt, dass es kaum Häuser gibt, in denen nicht mehrere Elendswohnungen sind, wo sich die Bewohner „nur noch krampfhaft, am Rande dieser kalten, grauen Hölle“ halten. Kessler nannte diese Mietskasernen „Totenhäuser“, wo vier, fünf Kinder samt Eltern in einem Zimmer hausen, es keine Bettwäsche gibt, keine Leibwäsche, kein Schuhzeug und keine warme Kleidung, ganz besonders nicht für die Kinder. Ihre Körper sind durch Mangelernährung ausgemergelt und verkrümmt, sie haben graue, abgemagerte Gesichter und tieftraurige, hoffnungslose Augen.

Genau vor hundert Jahren, das waren noch längst nicht die „Goldenen Zwanziger Jahre“ (die übrigens für die meisten so golden zu keinem Zeitpunkt waren) und den allermeisten Jugendlichen damals, die nicht der Oberschicht angehörten, hat nicht die Party gefehlt, sondern das Stück Brot zwischen den Zähnen und ordentliche Schuhe an den Füßen.

Also lasst mal die Kirche im Dorf, liebe Leute, eine „lost generation“ sieht wahrhaftig anders aus. Nichtsdestotrotz wünsche ich allen jungen Menschen, und den mittelalten, den etwas älteren und den ganz alten selbstverständlich auch, dass wir diese Mistkack-Pandemie bald im Griff haben. Und es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Rechte der jungen Generation, ganz besonders das auf Bildung, von unserer Regierung gewahrt werden.