Renates Kolumne: Nehmen Sie sich einen Moment Zeit!

| Renate Dehner
Man darf heutigentags ja alles mögliche sein, wovon frühere Generationen keine Ahnung hatten, selbst so völlig sinnlose Sachen wie Influencer, It-Girl, Reality-Star oder Verkehrsminister. Man darf nur eines nicht sein: Ein Verlierer, respektive eine Verliererin. Loser, wie das auf modern heißt, haben in unserer Welt nichts verloren. Ein Loser darf zwar im Film als „charmanter“ oder „sympathischer“ solcher auftauchen – aber auch nur, wenn er die Chance ergreift, zum „Winner“ zu werden. Denn im wahren Leben wendet man sich vom Loser mit Grausen. Da taugt er nur als Schimpfwort. Ich tue jetzt das Unerhörte. Ich bekenne mich schuldig: Ich bin ein ganz großer Loser. Ja, in echt!
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Ich wandle seit längerem, sagen wir die letzten zwanzig, dreißig Jahre, so intensiv wie leider erfolglos auf den Pfaden eines der ganz Großen der internationalen Literatur. Ich bin, je älter ich werde desto häufiger, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es ist mir ein Rätsel, wohin ich sie verlegt haben könnte. Ich meine, Jahrzehnte an Zeit, das ist doch ein Mords-Brocken, der verschwindet doch nicht einfach so! Aber es ging sozusagen im Handumdrehen. Ich finde diesen Haufen Zeit aber auch nicht einfach wieder, indem ich, sagen wir mal, ein Madeleine in den Tee tauche, wie seinerzeit der gute Marcel. Und um Tausende und Abertausende Seiten darüber zu schreiben, fehlt mir leider die Zeit. Was ist mit meiner verlorenen Zeit passiert? Wo ist die hingekommen? Hat die womöglich jemand anderer verschwendet? Ach nee, immer die Schuld auf die anderen schieben, das ist billig. Okay, wenn ich in mich gehe, muss ich zugeben, dass ich schon einiges an Zeit selbst vergeudet habe. Auf der anderen Seite - das waren zum Teil die nettesten Zeiten…

Es gibt einen Haufen Dinge, die man mit Zeit niemals tun darf. Also wirklich NIEMALS! Wir dürfen zum Beispiel im Kampf gegen die Klimakatastrophe keine Zeit mehr verlieren. Das haut einem jeder um die Ohren, oder jedenfalls fast jeder. Leider sagen diese klugen Menschen, die ohne jeden Zweifel Recht haben, das offenbar den falschen Leuten. Denn während wir Normal-Sterblichen keine Zeit mehr diesbezüglich verlieren dürfen, aber nur äußerst begrenzte Möglichkeiten haben, etwas Essentielles diesbezüglich zu tun, verschwenden bekanntlich die, die an der Misere wirklich etwas ändern könnten, keine Zeit damit, sich um solche Nebensächlichkeiten zu kümmern, sondern widmen all ihre Zeit dem Geldverdienen im ganz großen Maßstab. Und uns macht man dann ein schlechtes Gewissen.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sind mir noch ein paar andere Dinge eingefallen, die man nicht verlieren darf. Man darf zum Beispiel nicht die Geduld verlieren. Das hat einen ganz einfachen Grund: Wenn man die Geduld mit etwas verliert, dauern die Sachen für gewöhnlich sehr viel länger. Das kostet dann die Zeit, die man hinterher, naja Sie wissen schon, als verlorene brandmarkt. Wenn ich, was leider regelmäßig passiert, beim Kampf mit dem Computer erst die Geduld, dann die Nerven und schließlich die Contenance verliere, lauter Lebens-Notwendigkeiten, deren Verlust man tunlichst vermeiden sollte, dauert es erstens ewig, bis ich mich wieder beruhigt habe und zweitens noch mal so lange, bis die Arbeit erledigt ist. Wenn ich jetzt näher darüber nachdenke, kommt es mir fast so vor, als stecke ein Gutteil meiner verlorenen Zeit in dem Gerät, das doch angeblich angeschafft wurde, um mir Zeit zu ersparen.

Der Gedanke an Computer sowie andere Daseins-„Erleichterungen“ führt mich glatt und ohne Umschweife zum nächsten, was man laut allgemeinem Konsens nicht verlieren darf, nämlich die Hoffnung. Denn wer die Hoffnung verliert, der verliert den Mut, und dass das von Übel ist, wusste schon Goethe: „Mut verloren, alles verloren, dann wär es besser, gar nicht geboren!“ dichtete der Geheimrat, und wo er Recht hat, hat er Recht. Das rückt uns nämlich schon in die Nähe des Fatalsten aller Verluste. Wer seinen Humor verliert, hat echt nichts mehr zu lachen, also passen Sie gut auf ihn auf. Always look on the bright side of life! Statt nach meiner verlorenen Zeit, werde ich lieber mit meinen Enkelkindern Ostereier suchen, das macht mehr Spaß, und recht fröhliche Ostereier wünsche ich Ihnen auch!