Renates Kolumne: Was ziehe ich bloß an?

| Renate Dehner
Ich weiß, mit dieser Frage bin ich nicht allein. Aber bevor die Herren jetzt gelangweilt weiterklicken, bitte ich Sie, innezuhalten. Es ist nämlich keineswegs so, wie Sie glauben. Das ist es übrigens häufig nicht. Manche Herren glauben ja gern, Frauen hätten einfach viel zu viel anzuziehen, was der tiefere Grund dafür sei, dass sie so viel Zeit unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank verbringen. Mitnichten! Diese Herren haben einfach nicht verstanden, dass Kleidung ein sehr komplexer Code ist, eine ganz eigene Sprache, die mit ebenso viel Sorgfalt zu behandeln ist, wie jede andere Sprache, mit der man kommuniziert, sei es mündlich, schriftlich, gestisch oder mimisch. Jeder Mensch bringt mit seiner Kleidung etwas zum Ausdruck, ob er nun will oder nicht. Das ist eine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, merken Sie sich das, meine Herren! Aber ich schweife ab… „Was ziehe ich bloß an?“ war mein Ausgangspunkt.
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Und da geht es mir um folgendes: Bei etlichen Menschen, vorrangig solchen, die irgendwas mit Spiritualität am Hut haben, aber keineswegs nur solchen, hat sich die Überzeugung eingenistet, wir Menschen würden, kraft irgendwelcher nicht näher erläuterten Wellen, Schwingungen, Strahlungen, morphogenetischen Feldern oder was es sonst noch an geheimnisvollen Energien geben mag, die Dinge, die uns zustoßen, seien sie nun negativ oder positiv, selbst anziehen. Das brachte mich schwer ins Grübeln.

Zum Beispiel über folgendes: Ich habe es seit einigen Monaten mit einem Bankangestellten, in leitender Position wie ich hinzufügen möchte, zu tun, der nett und freundlich, zuvorkommend und höflich ist. Leider ist er an Saumseligkeit nicht zu überbieten. Er ist die personifizierte Saumseligkeit. Es geht um eine einigermaßen dringende Angelegenheit, die selbstverständlich uns Geld kostet und nicht die Bank, wie könnte es auch anders sein! Jedes Mal, wenn ich mich mit einer diesbezüglichen Frage an ihn wende, ist er die Liebenswürdigkeit selbst, verspricht, sich um die Angelegenheit zu kümmern und mich „zeitnah“ zurückzurufen. Ich habe inzwischen gelernt, dass „zeitnah“ sein Lieblingswort ist für „Sobald Sie aufgelegt haben, Frau Dehner, habe ich die Sache komplett vergessen, erstens interessiert sie mich nicht und zweitens sollten Sie sich um Ihren Scheiß besser selbst kümmern.“

Welch ein Karma habe ich in meinen vergangenen siebenundzwanzig Leben angehäuft, um es nun mit einer solchen Nulpe zu tun zu haben? War ich, die ich heute große Stücke auf meine Zuverlässigkeit halte, womöglich mal ein ausgewiesener Hallodri, eine Schwester Leichtfuß, eine Nichtsnützin und gedankenlose Verschwenderin von anderer Leute Zeit und Nerven? Eine Bankräuberin gar? In dem Fall würde mich natürlich gar nichts wundern. In meinem jetzigen Leben bin ich mir allerdings keiner Schuld bewusst!

Ich war, wie Sie sich vorstellen können, sauer. Ich war ganz unglaublich sauer! Ich war so sauer – und jetzt kommt der kosmische Witz – dass mir aus lauter Ärger eine viel bessere Lösung als alle Lösungen, die Herr Saumselig mir vorgeschlagen hatte und ihre Realisierung schleifen ließ, eingefallen ist. Wäre er schnell, zackig und tatkräftig gewesen, hätte ich vermutlich etwas zugestimmt, das überhaupt nicht in meinen Interessen liegt. Und jetzt frage ich mich natürlich wieder: Was ziehe ich bloß an?

Ich kann noch ein Beispiel eines kosmischen Witzes schildern. Ulrich und ich begannen vor mehr als dreißig Jahren, mit Begeisterung Herbsturlaub an der belgischen Nordseeküste zu machen. Wir lieben die Strandspaziergänge und das Bummeln durch die wunderschönen flämischen Städte. Im letzten Herbst hatten wir allerdings reichlich Pech mit dem Wetter und kamen auf die verwegene Idee, mal was Neues zu wagen. Shocking! Also buchte ich noch im Dezember ein Appartement an der Cote d’Azur. Meine helle Freude darüber blich allerdings jedes Mal etwas aus, sobald ich „Brügge“, „Gent“, „Antwerpen“ oder „Ostende“ hörte, las oder dachte. Ist doch sozusagen mein zweites Zuhause – schluchz, schnief! Dann bekam ich vier Monate nach der Buchung eine lapidare Mail der Agentur, mein Appartement an der Cote d’Azur sei – „für mich kostenfrei“, das fand ich besonders dreist – storniert, da es schon anderweitig belegt sei. Das merken die vier Monate später?! So ein Pech, so ein Ärger, so eine Schweinerei – was ziehe ich bloß an?

Plötzlich keimte der Gedanke: „Wäre das nicht wunderbar, wenn unser Lieblingsappartement in Belgien noch zu haben wäre?“ Und was soll ich sagen, ich freue mich dermaßen auf unseren Herbsturlaub in Belgien!

Also, was ziehe ich bloß an? Lauter „blessings in disguise“? Vielleicht ist mein Karma doch nicht so übel…