Was ist eigentlich "Persönlichkeitsentwicklung"?

| Alice Dehner
Fotolia_48339744_S.jpg

Nachdem es jahrelang still geworden war um die Persönlichkeitsentwicklung, taucht sie als Thema jetzt verstärkt wieder auf, nicht nur bei Personalern, sondern allgemein bei Führungskräften – vielleicht, weil man gemerkt hat, dass Techniken und Tools, so wichtig sie sind, allein noch keine gute Führungskraft ausmachen. Manchmal hatte ich jedoch den Eindruck, dass es eine gewisse Unklarheit darüber gibt, was da eigentlich entwickelt werden soll oder was es überhaupt bedeutet, dass die „Persönlichkeit“ sich entwickelt.

Zum einen entwickelt sich die Persönlichkeit immer dann weiter, wenn man seine Komfortzone verlässt, etwa, weil man Neues anpackt. Dann wird der Erfahrungshintergrund breiter, was sich für gewöhnlich auf die Ausstrahlung der Person auswirkt: Sie wird vielseitiger und das geht mit Entwicklung der Persönlichkeit einher. Man könnte das die „Neu-Entwicklung“ nennen oder eine „Weiter-Entwicklung“.

Zum anderen, und das scheint mir fast der wichtigere Aspekt zu sein, geht es bei Persönlichkeitsentwicklung häufig um eine „Nachentwicklung“ von Persönlichkeitsanteilen, die schon da sind.

Die Einschränkungen oder inneren Blockaden, die Menschen erleben, und die häufig die Ursache für den Wunsch nach Persönlichkeitsentwicklung sind, gehen meistens zurück auf innere Anteile der Person, die verhindern, dass sie in bestimmten Situationen so reagieren kann, wie sie sich das wünscht. Statt mutig und gelassen ist man ängstlich oder gar panisch, statt cool zu bleiben, reagiert man gereizt oder wütend, statt vernünftig mit einer Situation umzugehen, bricht man in Tränen aus. Die Persönlichkeitsanteile, die so etwas verursachen, sind nicht „erwachsene“ Anteile – wären sie das, könnte man ja sachlich und angemessen reagieren, statt emotional.

Eine Nachentwicklung solcher Anteile fällt deswegen so schwer, weil man sich dazu einmal wirklich auf sie einlassen müsste. Da sie aber mit sehr unangenehmen Gefühlen verbunden sind, vermeidet man das nach besten Kräften. Teile, die Angst haben, verzweifelt sind, wütend oder traurig sind, die mag man nicht an sich, die will man weg haben.

Solche Persönlichkeitsanteile haben auch schon früher im Leben keinen gefunden, der konstruktiv mit ihnen umgeht. Denn solange man noch sehr jung ist, braucht man tatsächlich jemanden von außen, der einen in schwierigen Situationen auffängt, mit einem spricht, eine wertschätzende Begleitung anbietet. Wenn das nicht stattgefunden hat und ein Kind oder Jugendlicher Situationen erlebt hat, die zum Beispiel beängstigend waren, ohne dass dieser Angst auf gute Art Rechnung getragen wurde, so hat sich, vor allem, wenn das mehrfach passierte, der junge Mensch damit „gerettet“, dass er diese Angst ins Abseits geschoben hat. Das gilt auch für das Erlebnis von Wut, Trauer oder Schmerz: wenn niemand da war, mit dem man hätte darüber sprechen können, hat man die Anteile, die wütend, verletzt oder traurig waren, so gut es ging verdrängt.

Wann immer man nun als Erwachsener mit diesen Anteilen in Kontakt kommt, und das passiert immer dann, wenn dieser Teil sich in irgendeiner Weise angesprochen fühlt, wird das als ziemlicher Stress erlebt. Man erlebt also dieses für einen selbst äußerst schwierige, unangenehme Gefühl, muss aber trotzdem weiterhin gut funktionieren, und behilft sich auf dieselbe Weise wie früher: Man schiebt es, so gut es geht, beiseite. Diesen Persönlichkeitsanteil kann man gerade gar nicht brauchen!

Nehmen wir zum Beispiel an, dass jemand, der darin nicht geübt ist, einen öffentlichen Vortrag halten soll, und aus diesem Grund eine Art Panik entwickelt. Wenn man seinen Stress, den er gerade durchlebt, zurückverfolgt, und man feststellt, dass er sich nicht nur aus der aktuellen Situation speist, so kann man davon ausgehen, dass sich da alte Teile wieder melden, die nie ausreichend gewürdigt wurden. Just in diesem Moment will man aber auch nichts mit ihnen zu tun haben, denn man will beim Vortrag ja gelassen und souverän auftreten. Dieser ängstliche Teil stört gewaltig, also tut man alles, um ihn wieder loszuwerden, ihn wieder in die finsteren Ecken zu pressen, wo er vorher schon so lange gesteckt hat. Manche Menschen versuchen sogar, das auf „chemischem“ Weg zu erreichen, mit Medikamenten, Drogen oder Alkohol.

Aber auch nicht so gefährliche Pfade, mit ungeliebten Persönlichkeitsanteilen umzugehen, wie „positiv denken“, sich ablenken, sich vor dem Vortrag krank melden und ähnliche Versuche der Vermeidung, sind immer nur kurzfristige Lösungen. Jeder Versuch, solche Teile einfach zu beseitigen, indem man sie ignoriert oder ihnen befiehlt zu verschwinden, verhindert, dass sie eine Nachentwicklung oder „Nachreife“ erfahren können. Denn dazu bräuchte es eine positive Hinwendung, eine wertschätzende Aufnahme dieses Teils. So, wie ein Kind sich positiv entwickelt, wenn es eine liebevolle Anteilnahme erfährt, so braucht jeder Persönlichkeitsanteil, um „reif“ und „erwachsen“ zu werden, das wertschätzende Angenommen sein.

Das genau sollte Persönlichkeitsentwicklung in meinen Augen leisten: Sich ungeliebten, unangenehmen Persönlichkeitsanteilen zu stellen und ihnen den nötigen Raum zu geben, auch wenn das Angst auslöst. Raum geben bedeutet übrigens nicht, sich mit ihnen zu identifizieren und dadurch ins totale Drama abzugleiten. Raum geben bedeutet, sie mit den erwachsenen Anteilen, die man ja auch hat, wahrzunehmen, ohne sie abzuschwächen, ohne sie negativ zu bewerten, ohne sie weghaben zu wollen – vielleicht so mit ihnen umzugehen, wie man mit einem ängstlichen Kind umginge, also ohne sich von dessen Angst mitreißen zu lassen, aber auch ohne barsch zu sagen: „Verzieh dich, ich will mit deiner Angst nichts zu tun haben!“

Wenn man es schafft, einen solchen ungeliebten Persönlichkeitsanteil auf diese Art willkommen zu heißen, kann man es erleben, wie er sich sehr schnell „entwickelt“, was bedeutet, dass er letzten Endes sich integriert. Auf das obige Beispiel bezogen, heißt das, dass man tatsächlich gelassen auf den bevorstehenden Vortrag reagieren kann, ohne Stress, ohne Panik, ohne Angst, sich zu blamieren, den roten Faden zu verlieren oder in sonst einer Weise zu versagen. Man hat alle seine erwachsenen Ressourcen zur Verfügung.

Bevor eine solche Nachentwicklung stattfindet, werden die Persönlichkeitsanteile, die uns Schwierigkeiten machen, von uns immer „klein“ im Sinne von „nicht erwachsen“ gehalten, weil wir durch das Weghaben Wollen verhindern, dass sie eine natürliche Entwicklung nehmen. Die Folge davon ist, dass wir in unserem Inneren nicht finden können, was jedem Menschen das Wichtigste ist: nämlich ganz und gar und mit allen Teilen angenommen sein, also suchen wir es im Äußeren, zum Beispiel in Beziehungen, in beruflichem Erfolg, in prestigeträchtigem Besitz usw. Doch keine Beziehung und kein äußerer Erfolg kann leisten, was wir uns nur selbst geben können – und dazu verhilft Persönlichkeitsentwicklung, wenn sie gut ist.