Renates Kolumne: Zahllose zahnlose Löwen

Zwei Wochen Osterferien mit der ganzen Familie liegen hinter mir – und es hat mir solchen Spaß gemacht! Es handelt sich nämlich um die netteste Familie der Welt, mit den drei klügsten, liebenswürdigsten und schönsten Enkeltöchtern, die man sich nur vorstellen kann. 
 

Wir waren in einem weithin unbekannten fränkischen Barockstädtchen, für das der Begriff „Idylle“ erfunden zu sein scheint. Ich weiß, die Bewohner mögen das anders sehen, aber als Urlauber sieht man halt nur die zauberhaften Seiten, nicht die sehr bescheidene Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, nicht das Fehlen eines Angebots für die Kinder und Jugendlichen und was der Mängel vielleicht mehr sein mögen.

Als Urlauber sieht man ein imposantes Schloss, das von vier steinernen Herren auf Säulen bewacht wird, die ich sofort auf Athos, Portos, Aramis und D’Artagnan getauft habe, denn ich bin absolut davon überzeugt, dass sie mit ihrem ganzen Erscheinungsbild, den Gesichtern, der Kleidung, der Haartracht, die Vorlage waren für die Kostümbildner der Musketier-Filme. Das Schloss besitzt aber nicht nur dieses eindrucksvolle Wachpersonal sondern auch einen wunderbar ruhigen, von Vogelgezwitscher erfüllten kleinen Schlosspark, indem man sich zwar nicht lange, aber dafür umso lieber ergehen kann und gegenüber eine Brauerei mit lauschigem Biergarten. Dazu kommen ein imposantes Barock-Rathaus, Stadt-Tore, hübsche Gassen mit ebenso hübschen Häusern und dann noch etwas, das mich täglich aufs Neue fasziniert hat: eine dreibogige Brücke, geschmückt mit steinernen Zeugen aus dem 17. Jahrhundert, die über einen… Bach führt. Ich bin sicher, der Bach träumt im Geheimen davon, die Seine zu sein, während die Brücke glaubt, sie sei der Pont Neuf. Wie überhaupt der ganze winzige Ort einen Traum von vergangener oder vielleicht auch nie dagewesener Größe ausstrahlt, den ich hinreißend finde.

Umgeben ist der Ort von Feldern und Wiesen, wo es sich herrlich spazieren gehen lässt. Das haben wir auch täglich getan, mitunter begleitet von Familienmitgliedern. Einmal war auch unsere siebenjährige Enkelin dabei, mit der wir auf der Suche waren nach den zahllosen zahnlosen Löwen, die sich irgendwo versteckt haben mussten, denn die Wiesen waren über und über voll mit Löwenzähnen. Die armen Löwen trauten sich nicht aus ihren Höhlen, aber unsere Enkelin hatte ihren Spaß an dem Wortspiel. Gefunden hat sie dann später einige Hasen, aus Schokolade versteht sich.

Ich habe aber nicht nur schöne Erinnerungen mitgebracht, sondern auch einen Buchtipp, den ich Ihnen hiermit wärmstens ans Herz lege: „Wie die Welt denkt“ von Julian Baggini ist eine „Globale Geschichte der Philosophie“, wie der Untertitel verrät, und es ist nicht halb so schwer zu lesen, wie man bei dem Wort Philosophie vielleicht befürchten könnte. Zugegeben, ganz am Anfang erfordert es möglicherweise etwas Durchhaltevermögen, doch dann ist es wirklich sehr gut lesbar, sehr interessant und sehr informativ. Julian Baggini ist ein britischer Philosoph, Autor und Journalist, der mit großer intellektueller Offenheit auf die diversen Denkschulen der Welt eingeht und sie sehr anschaulich beschreibt.

Dass dabei gelegentlich auch Einschätzungen herauskommen, die man so unkommentiert nicht übernehmen würde, finde ich ganz gut, denn das regt auf jeden Fall zum Nachdenken an. So zitiert er zum Beispiel zwei chinesische Philosophen mit folgendem: „Wenn wir nur ein Wort wählen müssten, um das chinesische Lebensideal zu charakterisieren, dann wäre es ‚Harmonie‘“ (Li Chenyang) oder „Der am tiefsten verwurzelte Wunsch des chinesischen Volke ist der nach Harmonie“ (John C. H. Wu). Baggini zitiert auch eine chinesische Bekannte mit der Aussage „die Chinesen würden immer anderen Menschen eine Freude machen wollen“. Wer es schon einmal mit der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit von chinesischen Touristengruppen zu tun hatte, die sich als Kohorte quasi mit Ellenbogen durch Straßen und zu Sehenswürdigkeiten kämpfen, ohne den geringsten Wunsch nach Harmonie mit ihren nicht-chinesischen Mitmenschen oder danach, jemand anderem als sich selbst eine Freude zu machen, erkennen zu lassen, kann diesem Diktum nicht vorbehaltlos zustimmen. Ihr globales Wirtschaftsgebaren spricht auch eine andere Sprache. Solche idealen Verhaltensweisen gelten wohl immer nur für die eigene Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. Das ist in etwa das Gleiche, wie das höfische Ideal des Anstands, der Höflichkeit, der guten Manieren etc. das europäische aristokratische Gesellschaften für sich in Anspruch nahmen, es aber nur ihrer eigenen Gesellschaftsschicht gegenüber zeigten – alles, was unter den hohen Herrschaften stand, wurde mit Missachtung behandelt und nach bestem Vermögen ausgebeutet.

Was die amerikanische „Philosophie“ betrifft, finde ich sie immer noch am treffendsten von einem Klassiker der deutschen Literatur gekennzeichnet: „Werfen Sie doch das hässliche Kind weg, gnädige Frau, ich mache Ihnen ein neues, ein viel schöneres!“ Nachzulesen beim unerreichten Kurt Tucholsky in „Deutsch für Amerikaner“ (geschrieben 1929!). Und mit diesem zweiten Literaturtipp endet mein Beitrag: Unbedingt mal wieder Tucholsky lesen! Unbedingt!!



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