Langeweile in der Provinz

| Alice Dehner
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Selbst wenn man in einer idyllischen Kleinstadt, eingebettet in eine idyllische Landschaft ein wunderbar langweiliges idyllisches Leben lebt, kriegt man manchmal Schaum vorm Mund (Trump. Putin. Erdogan. Das Fernsehprogramm. Das sogenannte Frühlingswetter - also das Wetter allein würde genügen, oder?). Die Aufgabe des Kolumnisten ist es, aus diesem Schaum schillernde Seifenblasen zu zaubern, die sich duftig leicht und bunt über die Niederungen des Daseins erheben und davon schweben. Gelingt mir leider selten. Das mit dem Schaum vorm Mund - kein Problem. Seifenblasen sind schon schwieriger. Manchmal haut es hin, manchmal nicht, aber das kennt ja jeder, das mal was klappt und mal nicht. Ich will mich nicht beklagen.

 

Stattdessen lieber Ihre dringende Frage beantworten, was es mit dem wunderbar langweiligen Leben auf sich hat. Das kam so: Neulich las ich im Feuilleton von einem, der sich über den Verlust der Langeweile beklagte. Da wurde mit schlagartig klar, wie begnadet unser Dasein hier in der viel geschmähten Provinz eigentlich ist. Wonach andere sich händeringend sehnen, wir haben es im Überfluss - jedenfalls wenn man Berliner und Münchner Promis, Möchtegern-Promis, Journalisten und Möchtegern-Journalisten glauben darf, die hier, oder anderswo in der „Provinz“, alles viel zu idyllisch finden, Idylle langweilig ist, denn sie schläfert angeblich ein, weshalb die wahre Kreativität nur im Beton-Dschungel gedeiht. Alles andere ist komplett vernachlässigbar. Die langweilige Provinz taugt höchstens als Lokalkolorit für die massenhaften schlechten Fernsehkrimis, mit denen man uns abends tja äh - langweilt.

 

Wenn sich trotzdem mal ein echter Kulturschaffender in unsere Niederungen verirrt, reibt er sich ungläubig die Augen. Und nutzt die Gelegenheit, herablassend und schrecklich wohlwollend zu werden. Da hat doch neulich so ein Theaterkritiker über eine Aufführung des Konstanzer Stadt-Theaters geschrieben, dass es geradezu unglaublich sei, dass man so etwas „in der Provinz“ zustande bringe! Wenn ich daran zurückdenke, ist es gleich wieder so weit mit dem Schaum vorm Mund… Glaubt der, hier wird nur Kasperle-Theater gespielt, oder was? Ach, was gäbe ich jetzt für eine Seifenblase, um sie dem arroganten Kerl um die Ohren zu hauen. In der Provinz, das lasse er sich gesagt sein, tobt das wahre Leben! Hier blühen Kunst und Kultur! Denn die erwachsen aus Langeweile - hat der gesagt, der sich über den Verlust derselben beklagte, und der muss es ja wissen, denn viel mehr ist ihm nicht eingefallen. Nichts jedenfalls, das bei mir hängengeblieben wäre.

 

Also, bei uns ist rein gar nichts los, wir langweilen uns den lieben langen Tag, weshalb wir unser durch nichts abgelenktes Augenmerk auf die kleinen Dinge des Alltags richten können, um sie messerscharf unter die Lupe zu nehmen. Fangen wir sofort damit an - und ich bitte gleich von vornherein zu beachten, dass es mir zwar möglich ist, Fragen aufzuwerfen, nicht jedoch, Antworten zu geben. Bisschen schade, ich weiß, machen die in den großen Metropolen der Welt aber meistens auch nicht anders. Und da kann man noch froh sein! Denn wenn sie Antworten geben, steht man meistens erst recht ratlos da und wenn man Pech hat, auch noch mit Schaum vor dem Mund… aber ich schweife ab.

 

Die häusliche Merkwürdigkeit, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit richten wollte, ist folgende: Es passiert mir immer mal wieder, dass ich daheim auf kleine Schrauben stoße, die rätselhafter Weise auf dem Fußboden rumliegen. Kennen Sie dieses Phänomen auch? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit dem alten Hut, bei mir sei halt eine so locker gewesen, dass sie sich ganz und gar aus dem Gefüge meines Oberstübchens gelöst habe. Das kann nicht der Grund sein! Was aber ist es dann? Die muss doch irgendwo hergekommen sein, diese Schraube! Soll ich mich einfach bücken, sie aufheben und in das Kästchen mit den anderen Schrauben legen, die ich seit Jahr und Tag sammle, mit dem Gedanken, man könne sie eines Tages vielleicht doch noch mal brauchen, genau wie die Bändel, Reißnägel, Gummis, Drahtstücke, nur ganz wenig verbogenen Büroklammern, die sich da schon befinden? Dieses liebevolle Wertschätzen vermeintlichen Mülls nennt sich übrigens, nur so nebenbei, Nachhaltigkeit, jedenfalls bei mir.

 

Also, ja, ich bücke mich, ich hebe sie auf, aber sie beunruhigt mich nichtsdestotrotz. Solch eine Schraube, die hat doch eine Aufgabe im Leben! Der wird sie jetzt ganz ohne jede Frage nicht mehr gerecht. Eine Schraube, sollte man meinen, und sei es nur eine kleine, gehört doch auch dazu, wenn es um den reibungslosen Ablauf eines Getriebes geht. Genau wie die Provinz zwingend zur Metropole gehört! Es kann nicht gleichgültig sein, ob sie da ist oder nicht. Jetzt aber liegt sie nutzlos auf meinem Wohnzimmerboden, die Schraube, ich weiß nicht, woher sie kam und noch viel weniger weiß ich, was mir demnächst um die Ohren fliegt, nur weil diese kleine Schraube ihren Dienst nicht mehr versehen kann. Schreckliche Vorstellung! Okay, bisher ist alles gut gegangen. Aber kann man sich darauf wirklich verlassen? Kleine Schrauben, die einen Zusammenhalt auflösen, und sei es erst einmal nur in der Provinz, setzen womöglich eine Kettenreaktion in Gang, die man, blauäugig wie man war, nicht hat kommen sehen. Und plötzlich schreit die ganze Metropole O weh und Ach!, nur weil man nicht auf die kleinen losen Schrauben in der Provinz geachtet hat, die wegen Vernachlässigung peu á peu das etablierte Gefüge zum Einsturz brachten.

 

Wer jetzt an Wahlergebnisse, zum Beispiel im provinziellen Amerika, denkt, dem fallen vielleicht auch Menschen ein, bei denen eine Schraube locker zu sein scheint.