Introvision Coaching ist ein von uns entwickeltes Format, mit Coaching nachhaltige Ergebnisse zu erzielen. Wir haben aus der ursprünglichen Introvision von Prof. Dr. Angelika Wagner (Uni Hamburg) unter Einbeziehung von Elementen der TA und den Achtsamkeitstechniken aus dem Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) Programm nach Jon Kabat-Zinn ein Coachingformat entwickelt, mit dem sich in sehr kurzer Zeit dauerhafte Veränderungen erzielen lassen.
Der Ansatz der Introvision, eine Methode der mentalen Selbstregulation, basiert im Wesentlichen auf den Erkenntnissen von Neurophysiologie und Neuropsychologie bezüglich der Rolle, die die Amygdala dabei spielt, wenn es um die Alarme geht, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen stressbedingtes Verhalten an den Tag legen. Der Alarmzustand (oder innnerer Konflikt), in den jemand geraten kann, ist eine Stressreaktion. Die von der Amygdala initiierte augenblickliche Ausschüttung von Stress-Hormonen befähigt den Menschen, von Null auf Hundert Höchstleistungen zu erbringen, um zu fliehen oder zu kämpfen. Diese Alarme sind zwar hilfreich, wenn es um das physische Überleben geht. In Situationen, in denen aber heute Stress empfunden wird (psychisches Überleben), und das physische Überleben nicht in Gefahr ist, helfen diese nicht weiter, da sie uns nicht souverän agieren lassen. Daher ist es sinnvoll in solchen Situationen den Alarm zu löschen.
Wenn jemand eine belastende, schlimme Situation oder ein Trauma erlebt, kann sich ein Alarm in der Amygdala bilden. Und der Alarm wird in Zukunft immer dann sofort anspringen, wenn, tatsächlich oder vermeintlich, die Gefahr besteht, dass sich die Situation genauso entwickelt, wie es unter keinen Umständen sein darf. Der Sinn eines jeden Alarms ist es, den Menschen zum schnellen und entschlossenen Handeln zu bewegen. Doch ein Alarm kostet eine Menge Energie. Deshalb gilt der Satz: Ein Alarm, auf den keiner reagiert, ist sinnlos. Ein sinnloser Alarm, der keine Handlung mehr auslöst, wird deshalb vom Gehirn gelöscht. An diesem Punkt setzt Introvision Coaching an: Mit dieser Methode wird der Alarm in der Amygdala gelöscht, sodass jene Reize, die ihn bislang triggerten, keine Reaktion mehr auslösen.
Ein Coaching kann auf drei Ebenen stattfinden, die sich sowohl in ihrem Schwierigkeitsgrad als auch in dem, was sie von Ihnen als Coach fordern, stark unterscheiden.
Die erste Ebene ist die der Reflexion von Rolle und Aufgabe einer Führungskraft und des Systems, in dem sie sich bewegt.
Die zweite Ebene ist Training auf der Verhaltensebene.
Die dritte und schwierigste Ebene ist das Erkennen und Auflösen blockierender Muster.
Sie haben mit Ihrem Coachee bereits die ersten beiden Ebenen durchgearbeitet, aber es stellen sich keine Erfolge ein? Wenn weder durch Arbeit auf der Reflexions- noch auf der Verhaltensebene ein Erfolg erzielt wird, weil in der Praxis alles beim Alten bleibt, existieren oft ältere innere Muster, die sich trotz aller Veränderungsversuche nicht auflösen lassen – hier setzt das Introvision Coaching an.
Coaches lernen diese Methode anzuwenden, erfahren woher die Blockaden kommen, wie sie diesen Alarm mit ihrem Coachee herausarbeiten und wie sie eine Introvision durchführen. Introvision-Coaching für ausgebildete Coaches ist eine schnelle, moderne Möglichkeit, die bereits in kurzer Zeit großartige Veränderungen erzielt.
Das Introvision Coching ist für alle Coaches mit einer abgeschlossenen Ausbildung geeignet.
Coach the Coach mit Introvision – Theoretische Auseinandersetzung und Selbsterfahrung, um mit der Methode vertraut zu werden
Coach the Coachee – Erlernen der Methode in der Umsetzung
Supervision und Vertiefung zu Introvision Coaching
Die Theorie, die dem Introvision Coaching zugrunde liegt, geht, wie in der Einleitung schon erwähnt, auf die Arbeiten der inzwischen emeritierten Hamburger Professorin Dr. Angelika Wagner zurück, die zum Thema mentaler Selbstregulation jahrzehntelang geforscht hat. Wir werden hier ihre Theorie der mentalen Selbstregulation, die Theorie der mentalen Introferenz und die Theorie der subjektiven Imperative nur soweit darstellen, als es uns für das Verständnis, auf welcher Grundlage Introvision ursprünglich entstanden ist, notwendig erscheint. Wer sich eingehender damit auseinandersetzen und auch mehr über die wissenschaftlichen Studien, auf die Professor Wagner sich bezieht, erfahren möchte, den verweisen wir hier gern auf ihr Buch „Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte“, erschienen 2007 bei Kohlhammer, wo diese Studien sehr ausführlich zitiert werden.
Wie funktionieren mentale Prozesse und warum funktionieren sie von Mensch zu Mensch unterschiedlich?
„Ich denke, also bin ich“ – das sagt sich schnell dahin, aber was genau mache ich dabei eigentlich? Diese Frage stellen sich Philosophen, Psychologen, Biologen, Neuro-Physiologen und wahrscheinlich eine ganze Reihe anderer Wissenschaftler seit – im Falle von Philosophen – Tausenden von Jahren. Wie funktionieren mentale Prozesse? Und besitzen Menschen eine eigenständige mentale Selbstregulation, oder funktioniert ihr Gehirn wie ein Computer, der alle hereinkommenden Daten verarbeitet, einfach so, wie er dafür programmiert wurde?
Aus Sicht der Theorie mentaler Introferenz (was das genau bedeutet werden wir gleich erläutern) gibt es ein schlagendes Argument dafür, dass es beim Menschen eine eigenständige Regulation mentaler Prozesse gibt – und das ist deren Störanfälligkeit. Mentale oder kognitive Prozesse sind alle bewussten und unbewussten Informationsverarbeitungsprozesse. Das reicht von unserer Verdauung, über unsere Fähigkeit, sich koordiniert zu bewegen, bis zum Denken und Sprechen. Wir wollen uns hier selbstverständlich nur mit jenen mentalen Prozessen befassen, die im weitesten Sinne als „Denken“ bezeichnet werden können.
Unser Denken ist störanfällig: Bekannte Informationen sind plötzlich „weg”, wenn wir sie dringend brauchen.
Unser Denken ist störanfällig, das heißt, es kann „hängenbleiben“. Was das bedeutet, kennt jeder aus seinem eigenen Alltag: Ein gesuchter Name liegt auf der Zunge, doch er fällt einem partout nicht ein; man weiß nicht mehr genau, wie man einen bestimmten Ort erreicht – musste man an dieser Ecke nun links oder rechts abbiegen? –; man kann sich nicht entscheiden, ob Lösung A oder Lösung B besser ist; man hat das Chemiebuch halb auswendig gelernt, aber in der Prüfung fallen einem die wichtigsten Punkte nicht ein; man hat Regeln und Werte verinnerlicht und findet sich plötzlich doch in einer Situation, in der sie nicht greifen. Und das sind noch die harmlosen Beispiele: Wenn das Denken hängenbleibt, kann das extrem unangenehm werden – es kann so weit gehen, dass das Überleben gefährdet ist. Wenn das Gehirn nur noch um die Frage kreiselt „Was mach ich nur, was mach ich nur ...?“ kostet das unter Umständen die entscheidenden Sekunden, die man zur Rettung gebraucht hätte.
Dass unsere mentalen Prozesse so störanfällig sind, kann daran liegen, dass unser Wissen schlicht und ergreifend mangelhaft ist oder dass unser strukturelles Denkvermögen begrenzt ist, dass es durch einen Unfall oder eine Krankheit in seiner Funktion eingeschränkt ist oder wir aus welchem Grund auch immer über zu wenig Informationsverarbeitungskapazität verfügen. Da das Hängenbleiben der Informationsverarbeitung potenziell lebensgefährlich ist, musste sich im Menschen die Fähigkeit entwickeln, mentale Prozesse eigenständig zu regulieren, um so das Hängenbleiben zu beenden oder ganz zu vermeiden.
Das epistemische System gründet sich auf rationaler Erkenntnis und steuert unsere – wohlüberlegten – Handlungen.
Bei der menschlichen Informationsverarbeitung lassen sich zwei verschiedene Systeme unterscheiden: das epistemische und das introferente System. Das, wenn man so will, ursprüngliche und unproblematische System ist das epistemische, denn es gründet sich auf Erkenntnis. Das griechische Wort Epistéme bedeutet Wissen, Erkenntnis oder Einsicht.
Die Fähigkeit des epistemischen Systems liegt darin zu erkennen, ob ein bestimmter Satz, eine Annahme, die zu einer Handlung führt oder führen soll, eine Voraussetzung, die man macht, kurz: jede Information, mit der man irgendwie umgeht,
Solange das epistemische System einwandfrei funktioniert, ist unser Denken somit in der Lage zu unterscheiden, ob das längliche Objekt im Gras eine Schlange oder ein Seil ist oder möglicherweise eins von beiden, weshalb auf jeden Fall Vorsicht angebracht ist. Wenn unser Denken mit epistemisch gültigen Annahmen operiert, hat es keine Mühe, reibungslos zu funktionieren. Es verarbeitet in der Diktion der Theorie der mentalen Introferenz „epistemisch gültige Kognitionen“.
Auch innerhalb des epistemischen Systems kann es Soll-Vorstel- lungen oder Ziel-Vorstellungen geben. Diese Soll-Kognitionen sind jedoch dann mit der Realität kongruent, wenn sie eingehalten oder in die Tat umgesetzt werden können. Ein Ziel oder eine Sollvorstellung ist „unproblematisch“ im Sinne der mentalen Selbstregulation, wenn es die – und sei sie noch sehr entfernte – Möglichkeit gibt, es zu erreichen. Das epistemische System vermag es, diese Unterscheidungen zu treffen, wenn es einwandfrei funktioniert.
Das introferente System ist schneller und „stört” das epistemische System, wenn schnelle Lösungen notwendig sind.
Nun ist das Denken aber aufgrund unserer oben skizzierten „Un- vollkommenheit“ störanfällig. Es kann, wie eingangs erwähnt, hängenbleiben. Da die epistemischen Prozesse alle unsere Handlungen steuern, auch solche, die für unser Überleben notwendig sein können, brauchen wir dringend die Möglichkeit, eine „Störung“ durch Eingreifen rechtzeitig zu beenden. Denn bis wir uns epistemisch gültig entschieden haben, ob das nun vor uns auf dem Boden ein Seil ist oder doch eine Schlange, kann diese schon zugebissen haben – mit möglicherweise fatalem Ausgang. Und so kommt das introferente System ins Spiel – vom lateinischen intro ferre: hineintragen. Wir haben damit ein zweites Informationsverar- beitungssystem, das sich dadurch auszeichnet, dass es etwas in die epistemische, also gültige, Informationsverarbeitung hineinträgt, das da eigentlich nichts zu suchen hat. Es beendet jedoch genau damit einen Zustand, der für unser Hirn, das eine schnelle Lösung braucht, unerträglich ist.
Bei inkongruenten Informationen geraten unsere Gedanken ins „Kreiseln”.
Solche Zustände können eintreten, wenn wir mit inkongruenten Informationen konfrontiert werden: Wenn zum Beispiel die Informationstafel am Flughafen ein anderes Abflug-Terminal angibt als die Lautsprecherdurchsage. Oder wenn es eine Diskrepanz gibt zwischen einer alten Erinnerung und dem momentanen Erleben: Man erinnert sich haargenau, dass man damals vor genau diesem Gebäude links abbiegen musste, um zur Schule zu kommen, aber jetzt findet man an dieser Stelle gar keine Straße vor. Oder man erlebt eine „Leer- stelle“ im Gehirn: Der Name, den man sucht, fällt einem partout nicht ein. Oder eine Regel, die immer gegolten hat, ist im Moment nicht anwendbar. An dieser Stelle kann es zu jenem „Gedanken- kreiseln“ kommen, das charakteristisch ist für das Hängenbleiben unserer mentalen Prozesse.
Ersatzkognitionen: Der Mensch „tut so”, als wüsste er Bescheid – um wieder handlungsfähig zu werden.
In der Folge wird in unser Informationsverarbeitungssystem etwas hineingetragen, was die Theorie der mentalen Introferenz nach Prof. Wagner als „Ersatzkognitionen“ bezeichnet. Solche Ersatzkognitionen kommen zustande, indem man zum Beispiel Vermutungen anstellt oder einfach rät. Ersatzkognitionen können daher ebenso wahr wie falsch sein – der Mensch weiß es schlichtweg nicht. Beim „primären Eingreifen“ (es gibt auch ein „sekundäres Eingreifen“, dazu weiter unten mehr) werden Ersatzkognitionen jedoch so behandelt, als ob sie wahr seien. Man handelt, obwohl man nicht wirklich weiß, ob die „Datenlage“ epistemisch gesichert ist oder nicht, man tut aber so, als ob man es sicher wüsste, um überhaupt wieder handlungsfähig zu sein. Die Kognitionen, mit denen man dabei umgeht, werden „quasi-epistemische Kognitio- nen“ genannt. Zusätzlich zu den quasi-epistemischen Kognitionen, so postuliert es die Theorie der mentalen Introferenz, gibt es auch noch „kontra-epistemische Kognitionen“, die entweder nicht den vorhandenen Tatsachen entsprechen, unbegründet oder logisch falsch sind.
Sich Imperieren: Vermeintlich falsche ober überholte Informationen werden durch Ersatzkognitionen überschrieben.
Wie gelingt es uns Menschen, das Eingreifen zu handhaben? Die Strategie, die dafür gewählt wird, nennt die Theorie der mentalen Introferenz „Sich-Imperieren“. Den Vorgang des Sich-Imperierens kann man sich in etwa wie das Überschreiben einer Information auf einem Zettel vorstellen: Die ursprüngliche, nun aber als falsch oder überholt angesehene Information bleibt zwar noch auf dem Papier bestehen, wird jedoch dick übermalt mit der neuen, nun als gültig anzusehenden Information. Damit wird die Ersatzkognition als „gültig” markiert, während die ursprüngliche Kognition markiert wird als „darauf nicht mehr achten“. Sie gilt nunmehr – in der Sprache der mentalen Introferenz – als „gehemmt“. Selbst wenn die ursprüngliche Information noch durch- scheinen sollte, bringt die dicke Übermalung zum Ausdruck: „Achte nicht auf das, was darunter liegt, es gilt nur die dicke Markierung!“
Die Ersatzkognition blendet im Stressfall alle Zweifel aus.
Diese „dicke Markierung“ ist, auf den Menschen übertragen, die Erregung, die mit der Ersatzkognition verbunden wird. Die allen Menschen eigene Fähigkeit, innere Erregung zu erzeugen, die mit Muskelanspannung einhergeht, diente entwicklungsgeschichtlich dem Zweck, im Menschen alle Kraftreserven zu aktivieren, um ihn befähigen, blitzschnell auf Gefahren wie zum Beispiel den Angriff eines wilden Tieres reagieren zu können. Diese Stressreaktionen werden beim Sich-Imperieren dazu genutzt, dem Hirn klar zu machen: „Lass nur noch diese Kognition gelten!“ Es findet im Grunde genommen ein doppeltes Eingreifen statt: Eine bestimmte Kognition wird festgehalten, während alle damit nicht übereinstimmenden Kognitionen ignoriert werden. Das Bewusstsein wird eng gestellt auf die Ersatzkognition, während alle vielleicht noch vorhandenen Zweifel ausgeblendet werden. Diesen Vorgang des Eingreifens nennt die Theorie der mentalen Introferenz das „primäre Eingreifen“, das sich im übrigen auch automatisieren kann und so zu einer festen Gewohnheit wird, die natürlich auch schwerer wieder zu deaktivieren ist.
Um gegen den inneren Stress anzugehen, wird auch die Ersatzkognition überschrieben.
Zum „sekundären Eingreifen“ kommt es laut der Theorie der mentalen Introferenz, wenn in introferent festgehaltene Kognitionen erneut eingegriffen wird, und zwar, um den Auswirkungen zu begegnen, die das primäre Eingreifen verursacht. Wenn es im Individuum zu einem Konflikt kommt, was zu tun ist, wie man sich verhalten soll, vielleicht weil sich die äußere Situation geändert hat und es deswegen nicht mehr gesichert ist, dass das primäre Ein greifen weiterhin das „richtige Vorgehen“ vorgibt, kommt es erneut zum Prozess des „Sich-Imperierens“. Es wird ein neuer Imperativ darüber gesetzt.
In beiden Fällen verstärkt sich die Erregung noch weiter, die innere Anspannung wird noch größer. Dieses erneute Eingreifen kann sich auch noch weitere Male wiederholen, wird jedoch der Einfachheit halber weiterhin als „sekundäres Eingreifen“ bezeichnet, denn das dritte, vierte oder fünfte Mal unterscheidet sich vom Prozess her nicht. Durch das wiederholte sekundäre Eingreifen lagern sich die Schichten der Erregung und Anspannung übereinander und bilden, je nach Lebensgeschichte und auch abhängig von individuellen Verarbeitungsmustern, jene „subjektiven Imperative“, die dem Menschen das Leben schwermachen – und die ursprünglich schon mit dem Stress verbunden sind, der ein Merkmal der subjektiven Imperative ist.
Selbstanweisungen verschärfen das Erregungslevel weiter.
Damit aus imperativischen Vorstellungen subjektive Imperative werden, die wir im nächsten Kapitel näher erläutern, müssen sie jedoch zusätzlich mit der Selbstanweisung verknüpft werden: „Gib diese Vorstellung nicht auf!“ Für diese ebenfalls imperierte Selbstanweisung, die das Erregungslevel weiter steigert, gibt es laut Theorie der mentalen Introferenz mehrere mögliche Gründe, etwa auf der sozialen Ebene:
Oder auf der persönlichen Ebene, etwa infolge eines Traumas:
Oder infolge eines weiteren imperativischen Glaubenssatzes, der da lautet „Was ich (mein Gott/mein Guru/sonst wer) will, muss auch geschehen!“:
Grundannahmen zur Manifestation von subjektiven Imperativen und inneren Alarmen
So weit die, stark verkürzte, Theorie der mentalen Introferenz, die auf einer quasi strukturellen Ebene beschreibt, wie es zur Bildung von subjektiven Imperativen kommt. Für die praktische Arbeit hat sich diese zwar intellektuell interessante, aber eher komplizierte Theorie jedoch als weniger nützlich erwiesen, weshalb sich unserer Auffassung nach das logisch nachvoll- ziehbarere Modell anbietet, das mit folgendem Ansatz bzw. folgenden Annahmen arbeitet:
Der Alarmzustand sicherte evolutionsgeschichtlich das Überleben des Menschen.
Die innere Erregung, die Anspannung, der Alarmzustand, in den man geraten kann, ist jene Stressreaktion, die es uns unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten erst ermöglicht hat, unser Überleben zu sichern: Die von der Amygdala blitzschnell aktivierten Stresshormone, die den Körper überfluten, versetzen uns in die Lage, von Null auf Hundert Höchstleistungen zu erbringen, um zu fliehen oder zu kämpfen. Angesichts eines Säbelzahntigers, der fauchend um die Ecke bog, brauchte man nicht lange zu überlegen, was jetzt die beste Strategie wäre, dieser Gefahr zu begegnen: Man rannte los wie Usain Bolt zu seinen besten Zeiten. Wenn man das Glück hatte, die sichere Höhle zu erreichen, brauchte man an- schließend ein Weilchen, um sich von diesem Adrenalinschock zu erholen. Eine Sache hatte man jedoch ein für alle Mal gelernt. So- bald ein solches Fauchen zu hören ist: Rennen, was das Zeug hält! Von da an löste schon die Andeutung dieses Geräusches den inneren Alarm und damit den Ausstoß von Stresshormonen aus.
Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems, in welchem Informationen aus dem Organismus und Botschaften von außen verarbeitet und bewertet werden. „Von besonderer Relevanz ist dabei die Amygdala: Ihr basolateraler Teil erhält Informationen aus den Sinnesbereichen, ihr corticomedialer Teil beeinflusst die Freisetzung von Stresshormonen sowie das vegetative Nervensystem. Die Amygdala kann damit als zentrale Verarbeitungsstelle für äußere Reize mitsamt den dazugehörenden körperlichen Reaktionen angesehen werden.“ (Zitat aus: Gabriele Eßing „Praxis der Neuropsychotherapie“, DPV, 2015.)
Ein schlimmes Erlebnis kann den Alarm in der Amygdala aktivieren und einen Imperativ ausformen.
Wenn jemand eine für ihn sehr schlimme Situation erlebt hat – sei es mehrfach oder sei es im Falle eine Traumas nur ein einziges Mal –, kann sich ein Alarm in der Amygdala bilden, der sich zur Ausformung eines Imperativs entwickelt und der in Zukunft immer dann anspringt, wenn die Gefahr besteht, dass er bedroht wird, sprich: wenn es sein kann, dass sich die Situation genau so entwickelt, wie es unter keinen Umständen sein darf. „Die im Gehirn angelegten neuronalen Muster bilden sich in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen heraus“ (Eßing, s.o.). Die Amygdala ist aufgrund ihrer Bedeutung für das Überleben viel schneller, als es das Großhirn jemals sein kann, sie entscheidet im Bruchteil von Sekunden, ob eine Gefahr für den Menschen besteht oder nicht und alarmiert daraufhin andere Gehirnareale. Da das so ist, springt der Alarm mit all seinen Wirkungen und Nebenwirkungen viel schneller an, als das Großhirn seine „vernünftigen, sachlichen“ Gegenargumente, so berechtigt sie auch sein mögen, ins Spiel bringen kann. Das Großhirn, in dem unsere Ratio beheimatet ist, hinkt nämlich immer hinterher.
Im Alarmfall siegt die Amygdala über die Ratio.
Der Alarm kann körperliche, mentale und emotionale Auswirkungen zeitigen. Auswirkungen auf der Körperebene können zum Beispiel sein: heftiges Atmen oder Atemnot, Druck auf Brust oder Magen, Herzklopfen, Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern oder Verkrampfungen. Mentale Auswirkungen können Erinnerungen sein, die wachgerufen werden, oder innere Beschimpfungen. Emotionale Auswirkungen äußern sich etwa durch Weinen und Angstgefühle bis hin zur Panik oder auch Wut. Und wenn es erst einmal so weit ist, dass man sich mitten im Alarmzustand befindet, kann unser Großhirn mit all seinem Wissen, seinen Überlegungen, seinen Argumenten nicht mehr viel ausrichten: Die Amygdala ist einfach stärker.
Ein rein kognitives Reflektieren hilft nicht, die belastende Erfahrung zu überwinden.
Das erklärt auch, weshalb eine rein kognitive Aufarbeitung schwieriger, belastender Erfahrungen meistens keine dauerhaften Ergebnisse zeitigt. Wenn es sich um echte Imperative handelt, handelt hauptsächlich die Amygdala – und die „verkörpert das reine Gefühl ohne Bewusstheit“ (Eßling, s.o.). Der Imperativ zwingt den Menschen, sich auf eine ganz bestimmt Art und Weise zu verhalten, selbst wenn das sogar in seinen eigenen Augen gar keinen Sinn macht.
Warum sich Menschen unter Druck so (irrational) verhalten, wie sie sich verhalten, hat mit dem Wesen des Alarms zu tun: Der Sinn eines jeden Alarms ist es, den Menschen zum schnel- len und entschlossenen Handeln zu bewegen.
Wenn der Mensch durch den Alarm in innere Not gerät, handelt er – egal wie.
Dass es dabei zu vollkommen irrationalen Handlungen kommen kann, wenn der Alarm nur heftig genug ist, hat der Autor persönlich und sehr eindrücklich eines Morgens beim Verlassen eines Hotels erlebt. Das Hotel befand sich in einer Einbahnstraße, die so zugeparkt war, dass es für die Autos auf der Fahrspur keinerlei Möglichkeit gab, zu überholen beziehungsweise aneinander vorbei- zufahren, auch nicht auf dem Umweg über den Bürgersteig. Es war Stau, es ging nichts vor und nichts zurück, und in diesem Stau stand eine Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene. Eine Feuerwehrsirene gehört zu den heftigsten Alarmen, die man hören kann. Der Impuls zu handeln, den diese Sirene auslöste, war so stark, dass der Autofahrer, der sich unmittelbar vor dem Feuerwehrfahrzeug befand, den Gang einlegte, Gas gab und sehenden Auges auf seinen Vordermann auffuhr – einfach nur, um etwas zu tun. Es war sinnlos, unvernünftig und half in keiner Weise, doch der Autofahrer fühlte sich durch den Alarm offenbar so aufgerufen, irgendetwas zu tun, dass er in innere Not geraten war und genau das versuchte, was der Alarm ihm riet: zu fliehen, also wegzufahren.
Die Engstellung der Wahrnehmung mobilisiert Kräfte – und blendet zugleich Informationen aus.
Weil man unüberlegt – instinktiv oder automatisiert – sehr viel schneller handeln kann, als wenn man erst über jeden Schritt nachdenkt, nimmt in gefährlichen oder Not-Situationen unser Verhalten wohl den Reflex-Weg über die Amygdala und nicht über das Großhirn, denn das würde viel zu lange dauern. Die Amygdala macht dabei keinen Unterschied, ob die Situation objektiv gefährlich ist oder ob sie nur aufgrund vergangener Erfahrungen von uns als gefährlich eingestuft wird. In der Amygdala wird in solchen Situationen, die ja immer auch mit Angst verbunden sind, veranlasst, dass Stresshormone ausgeschüttet werden, die einerseits ungeahnte Kräfte mobilisieren können, andererseits aber auch dafür verantwortlich sind, dass viele andere Informationen ausgeblendet wer- den, weil die Wahrnehmung eng gestellt wird. Es geht schließlich ums Überleben, da kann man beim Wegrennen nicht auch noch die Schönheit der Landschaft bewundern.
Die Engstellung der Wahrnehmung, die beim Kampf auf Leben und Tod sinnvoll ist, hat jedoch in unserem modernen Leben eine wenig sinnvolle Auswirkung. Sie führt nämlich dazu, dass Entscheidungen schlechter werden, weil nicht mehr genügend Informationen aus dem Umfeld beachtet und in die Überlegungen einbezogen werden.
Stress ist zwar nicht grundsätzlich und immer schlecht. Ein gewisses Maß davon wird gebraucht und führt durchaus zu einer Bereicherung unseres Lebens. Doch wie immer kommt es auf die Dosis an, ob etwas Heilmittel oder Gift ist, und Dauer-Stress macht krank. Deshalb bedeuten Stresshormone in unserem täglichen Leben mehr Fluch als Segen, denn mit ihrem Wirken geht auch die innere Gelassenheit verloren. Der Stress selbst ist zu einer Bedrohung geworden.
Die meisten Methoden zur Stressbewältigung verhelfen dem Menschen zu einem besseren Umgang mit Stress.
Aus diesem Grund sind bislang eine ganze Reihe Verfahren entwickelt worden, die zum Ziel haben, den
vorhandenen Stress zu managen beziehungsweise die ausgeschütteten Stresshormone wieder aus dem
Körper zu bekommen. Joggen, Achtsamkeitstechniken, Yoga, Entspannungstechniken – sie alle versuchen, dem Menschen einen guten Umgang mit Stress zu vermitteln. Wenn man den Zustand eines Menschen, der unter Stress steht, mit einem Dampfkessel vergleicht, wie wir das weiter oben schon einmal erwähnt haben, so dienen die angeführten Methoden jedoch lediglich dazu, mithilfe des Dampfdruckventils den Druck so weit zu reduzieren, dass der Topf nicht explodiert. Introvision Coaching stellt hingegen durch das Löschen der Alarme sozusagen die Herdplatte aus, sodass sich gar kein Druck mehr aufbaut (siehe Abb links).
Introvision lässt Stress gar nicht erst entstehen.
Den Stress in Zukunft gar nicht erst entstehen zu lassen, darum geht es beim Introvision Coaching. Denn
wäre es nicht mehr als wünschenswert, wenn man in schwierigen Situationen, sei es beruflich oder privat, gelassen reagieren könnte? Man könnte die volle Funktionsfähigkeit des Großhirns nutzen und sich so verhalten, wie man es will, nicht getrieben durch einen Imperativ, sondern selbstbestimmt. Das funktioniert aber nur, wenn es für diese Situationen keinen Alarm in der Amygdala gibt. Menschen, denen es gelingt, auch in schwierigen Situation ihre innere Gelassenheit zu bewahren, verspüren keinen Alarm.
Die drei weitgehend sinnlosen Handlungsweisen im Umgang mit Dauerstress: Angriff, Flucht oder Erstarrung.
Wer jedoch einen starken inneren Alarm erlebt, der kann nicht mehr „erst mal ganz ruhig überlegen“, was zu tun ist. Das Wesen des Alarms ist es nun einmal, den Menschen zu einer sofortigen Handlung zu nötigen: entweder Angriff oder Flucht. Oder, das ist die dritte mögliche Variante, man erstarrt vor Furcht, steckt den Kopf in den Sand, um dem Alarm zu entgehen, und ist zu gar keiner Handlung mehr fähig. Erstarrung als Stressreaktion ist etlichen Menschen aus Prüfungssituationen bekannt: Sie sind nicht mehr in der Lage, auch nur irgendwie auf eine Prüfungsfrage zu reagieren und geben selbst auf mehrfaches Nachfragen einfach gar keine Antwort mehr. Sie bleiben stumm und können nicht ein- mal mehr sagen, dass sie es nicht wissen. Im Berufsleben äußert sich das Erstarren manchmal darin, dass man sich krank meldet, weil man nicht mehr weiter weiß – und sich auch tatsächlich völlig krank fühlt, denn der innere Druck jubelt den Blutdruck in ungeahnte Höhen, der Kopf dröhnt und der Magen rebelliert. Manchmal verkriecht sich jemand auch ganz ohne offizielle Begründung für ein paar Tage und ist einfach nicht auffindbar – ebenfalls eine Variante von „den Kopf in den Sand stecken“.
Im Business-Coaching hat man es meist häufiger mit dem Fall des sofortigen Angriffs zu tun. Da verhalten sich Manager gerne nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Alarm“ und greifen so- zusagen zu den Waffen. Es werden immer wieder Fälle von hochrangigen Managern bekannt, die auf Vorstandssitzungen oder sogar vor Kunden ausrasten, herumbrüllen und sich augenscheinlich überhaupt nicht mehr in der Hand haben. Ihr Stresslevel ist ganz offenbar so hoch, dass selbst kleine Anlässe ausreichen, sie in größte innere Not zu bringen, in der sie nur noch die oben genannten drei Handlungsalternativen zur Verfügung haben und dann jene wählen, die ihnen von Kindesbeinen an vertraut ist.
Mit leichtem Stress versuchen wir Menschen üblicherweise vernünftig umzugehen. Wir suchen Möglichkeiten, ihn zu bewältigen, suchen gute Lösungswege aus schwierigen Situationen, überlegen, was am besten zu tun ist. Doch wenn der Stress sich steigert, greifen wir für gewöhnlich auf Verhaltensweisen aus der Kindheit zurück. Wer schon von Kindesbeinen an gelernt hat, dass sich schwierige Situationen mit einem Wutausbruch noch am besten bewältigen lassen, der greift zu diesem Mittel, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlt, auch wenn dieses Verhalten ihm zunehmend mehr Nachteile bringt und vollkommen sinnlos ist. Das Großhirn ist nicht mehr beteiligt, die Amygdala hat die Regie übernommen.
Sich selbst unter Druck setzen – der sichere Weg, den inneren Alarm zu verschlimmern.
Neben den körperlichen, mentalen und emotionalen Auswirkungen ist der innere Alarm häufig damit verbunden, dass man sich entweder selbst unter Druck setzt oder sich stark unter Druck gesetzt fühlt. So etwas passiert zum Beispiel bei Fällen von starker Prüfungsangst. Eine Studentin, die vor einer wichtigen Prüfung so starke Symptome einer Prüfungsangst entwickelt hatte, dass sie, im wahrsten Sinne des Wortes, alles nur noch zum Kotzen fand, war von ihren besorgten Eltern ins Coaching geschickt worden. Die Studentin wachte regelmäßig nachts auf, dachte an ihre Prüfung und erlitt Panikattacken, die so heftig waren, dass sie sich übergeben musste. Solche Reaktionen waren neu für sie, denn ihr Abitur hatte sie problemlos gemanagt, doch mit dem anspruchsvollen Studium, das sie sehr forderte und bei dem schon viele ihrer Kommilitonen durch Prüfungen gefallen waren, begannen auch die Ängste. Sie setzte sich so ungeheuer unter Druck, dass ihre Versagensängste drohten, zur Selffulfilling Prophecy zu werden, denn sie war überhaupt nicht mehr lernfähig.
Prüfungsangst ist jedoch kein Phänomen, von dem nur Schüler und Studenten betroffen sind, denn Prüfungssituationen gibt es auch im Berufsleben andauernd: ein bevorstehendes Bewerbungsgespräch, ein Assessment-Center, eine wichtige Präsentation, ein Kundenbesuch – all das und noch mehr kann als Prüfung, die es zu bestehen gilt, empfunden werden.
Der Druck, unter den man sich selbst setzt, wie auch derjenige, den man als von außen kommend erlebt, kann so weit gehen, dass es zu einer starken Verminderung der Wahrnehmungsfähigkeit kommt, zum sogenannten Tunnelblick und/oder zur Unfähigkeit, die Außenwelt noch aufmerksam wahrzunehmen. Folglich ist man nicht mehr in der Lage, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Imperative verursachen auf diese Weise nicht nur Stress, sie schränken auch die persönliche Entscheidungsfreiheit ein, denn man ist nicht mehr „Herr seiner selbst“, wenn der Imperativ das Sagen hat.
Der innere Alarm bleibt, selbst wenn der Grund dafür nicht mehr gegeben ist.
Wenn Coachs es mit stark emotionalen Themen zu tun haben oder auch mit Verhaltensblockaden, die sich bislang nicht haben auflösen lassen, können sie fast immer davon ausgehen, dass es starke Alarme gibt, die für die Fortdauer eines Problems sorgen. Dies gilt auch dann, wenn der Grund dafür, dass der erste Alarm etabliert wurde, längst nicht mehr gegeben ist. So kam zum Beispiel ein Klient zum Coaching, weil er sich schlichtweg nicht in der Lage sah, Englisch zu sprechen. Dieser Klient war als etwa elfjähriges Kind mit seinen Eltern als Aussiedler nach Deutschland gekommen und musste Deutsch zuerst noch lernen.
Bereits nach einem Jahr sprach er so gut deutsch, dass er das Gymnasium besuchen konnte. Seinem Alter, seiner Intelligenz und auch seinen Noten aus seinem Herkunftsland nach wäre die zweite Gymnasiumsklasse die richtige für ihn gewesen, was auch seinem Wunsch entsprach. Es bestand allerdings die Schwierigkeit, dass alle anderen Kinder bereits in der ersten Klasse Englischunterricht gehabt hatten, während er noch über keinerlei Englischkenntnisse verfügte. Da er trotzdem die erste Klasse unbedingt überspringen wollte, um nicht so viel älter als seine Mitschüler zu sein, wurde mit dem Direktor des Gymnasiums die Vereinbarung getroffen, dass er die zweite Klasse besuchen und während des Schuljahrs in Volkshochschulkursen das Englisch nachholen sollte, um mit den anderen Schülern auf einen Stand zu kommen.
Obwohl der Englischlehrer über all das informiert war, drückte er dem Jungen in der allerersten Schulstunde einen englischen Text in die Hand und forderte ihn auf, das vorzulesen. Das Kind war zu angepasst, zu ängstlich und verständlicherweise überfordert damit, sich zur Wehr zu setzen, und las vor, ohne die geringste Ahnung von Aussprache zu haben – mit der Folge, dass die ganze Klasse brüllend lachte über den armen Teufel, der da von einem unverantwortlichen Lehrer so vorgeführt wurde und der aus seinem Amüsement auch keinen Hehl machte.
Durch den inneren Alarm wiederholt sich das traumatische Erlebnis immer wieder.
Der Junge fühlte sich so beschämt, dass er die Erinnerung daran nie mehr los wurde. Er lernte im Laufe seines Schülerlebens noch Englisch, sehr gut sogar, und machte ein hervorragendes Abitur, doch danach weigerte er sich, auch nur noch ein Wort Englisch zu sprechen. Diese eine Situation hatte eine so traumatische Wirkung auf ihn gehabt, dass der Alarm, der dabei installiert wurde, sofort zu schrillen begann, sobald sich auch nur entfernt eine Situation andeutete, in der er sich genötigt sah, Englisch zu sprechen. Wenn er in seinem Job vor der Notwendigkeit stand, etwas auf Englisch vortragen oder präsentieren zu müssen, hatten sämtliche Stresshormone seinen Körper schon überschwemmt, bevor sein Großhirn ihm beruhigend hätte mitteilen können, dass er Englisch doch inzwischen beherrschte. Von den drei Optionen, die die Stresshormone uns lassen – Angriff, Flucht oder Erstarren – „wählte“ er immer das Erstarren, sprich, er bekam keinen Ton mehr heraus. Das hatte schon einige Male dazu geführt, dass sich die ursprüngliche traumatische Situation quasi wiederholte. Denn es war jedes Mal sehr peinlich und führte zu Ärger mit seinem Chef, der natürlich überhaupt nicht verstand, weshalb sein brillanter Mitarbeiter so versagte.
Das Gehirn macht keinen Unterschied zwischen Realität und Vorstellung.
Schon allein der Gedanke daran, wieder in solch eine Situation zu kommen, reichte aus, um ihm den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Neurophysiologische Untersuchungen bestätigen, dass Gedanken, Gefühle, Erinnerungen oder Vorstellungen Auswirkungen auf unser Gehirn haben. Erinnerungen, die Unangenehmes oder gar Traumatisches beinhalten, rufen eine erhöhte Aktivität in den Angstzentren des Gehirns hervor. Unser Gehirn scheint in dieser Hinsicht keinen großen Unterschied zwischen Vorstellung und Realität zu machen: Auch was wir uns lediglich vorstellen, findet genau jetzt statt und animiert die Amygdala, zu reagieren. Deshalb werden die Stress-Hormone jetzt ausgeschüttet, wenn ich an die Prüfung denke, und nicht erst in zwei Wochen, wenn sie tatsächlich stattfindet. Bei dem Klienten war es deshalb schon die Andeutung der Gefahr, dass sich die traumatische Situation wiederholen könnte, die seinen Alarm anspringen ließ.
Introvision Coaching ist ein Verfahren, das der menschlichen Intuition ein Schnippchen schlägt.
Wenn ein Alarm dazu da ist, eine Handlung zu aktivieren, so ist die Idee, diesen Alarm einfach leer laufen zu lassen, schlichtweg genial. Sich zu fragen und zu untersuchen „Was geschieht eigentlich, wenn wir bei Menschen ihren Alarm auslösen?”, sie aber gleich- zeitig veranlassen, ihn nur zu beobachten und gerade nicht zu handeln, nicht einzugreifen, war bahnbrechend. Denn wie sich gezeigt hat, wird durch genau diese Verfahrensweise der Alarm in der Amygdala wieder gelöscht. Weil ein Alarm, auf den keiner reagiert, ganz offenbar sinnlos ist.
Ein Alarm verliert seine Bedeutung, wenn er keine Reaktion mehr auslöst.
Wenn ein Alarm keine Handlung mehr auslösen kann, dann braucht man ihn auch nicht mehr. Wie richtig das ist, dafür gibt es übrigens auch ein ganz ein drückliches Beispiel in unsersem Alltag. Haben Sie schon jemals die Polizei gerufen oder auch nur aus dem Fenster gesehen, wenn zum soundsovielten Mal eine Autosirene zu hören war? Wahrscheinlich haben Sie nur innerlich schulterzuckend gedacht: „Oh je, schon wieder ein Fehlalarm. Hoffentlich stellt er das Ding bald ab!“ Deshalb kann man eigentlich auf die Alarmanlage im Auto getrost verzichten: Sie löst keine Handlung aus – jedenfalls nicht die gewünschte.
Da wir oft schon in der ersten Sitzung eines Coachings mit Introvision Coaching arbeiten, ist es uns wichtig, eine leicht verständliche Theorie anzubieten, die für Klienten nachvollziehbar ist. In unseren Augen bietet sich das Erklärungsmodell der in der Amygdala installierten Alarme für Imperative und ihre Wirkmechanismen deshalb ganz besonders an. Jeder kann das nachvollziehen, ohne sich über epistemische oder introferente Informationsverarbeitungssysteme Gedanken machen zu müssen.
Denn das Verfahren als solches ist für die meisten Klienten in der ersten Sitzung schon eine gewisse Herausforderung. Es ist ungewöhnlich und geht weit über das hinaus, was jemand in der Regel von einer Coachingsitzung erwartet: nämlich ein Gespräch zu führen und zu reflektieren. Haben die Klienten jedoch ein Erklärungsmodell, das ihnen schnell einleuchtet und das ohne komplizierte Theorien auskommt, sind sie für gewöhnlich sofort bereit, sich auf das Experiment einzulassen. Unsere bisherige Erfahrung bestätigt, dass sich das Alarmmodell bestens dafür eignet, um den Klienten deutlich zu machen, worum es geht: Dass die Methode, mit der wir in der Coachingsitzung arbeiten, darin besteht, dem Alarm nicht zu folgen, indem man in irgendeiner Art und Weise handelt, sondern den Alarm zu erleben, ohne darauf zu reagieren, auch nicht, indem der Klient darüber nachdenkt, die betreffende Situation analysiert oder Gegenargumente sammelt.
Die besondere Herausforderung für den Klienten: den Alarm einfach „tatenlos” zur Kenntnis nehmen.
Der Coach braucht für dieses Vorgehen auch deshalb ein gutes Erklärungsmodell, weil es natürlich zunächst ganz gegen die Intuition eines Klienten geht, sich all dem Unangenehmen, das er weghaben will
und weswegen er schließlich ein Coaching macht, praktisch „taten- los“ auszusetzen. Rein intuitiv will jeder etwas gegen seine inneren Alarme tun: Man will eingreifen, um sich von den unangenehmen, blockierenden, ängstigenden Gedanken und Gefühlen zu befreien. Der erste Impuls, wenn man mit einem Angst auslösenden Satz konfrontiert ist, besteht wohl immer darin, sofort etwas zu tun, um die Angst und den Stress zu reduzieren.
Es ist jedoch genau das Nichteingreifen, das nötig ist, damit die Amygdala den Alarm löscht. Wie das Beispiel mit dem Autoalarm demonstriert: Ein Alarm, auf den niemand reagiert, den braucht man nicht. Wenn jeder achselzuckend weitergeht, selbst wenn das Auto hupt und blinkt, ist der Alarm überflüssig, er ist zu nichts mehr gut – ein unnötiger Energiefresser. Unser Gehirn ist das Organ mit dem höchsten Energieverbrauch. Am eigenen Leib kann man sehr schnell spüren, wie viel Energie ein Alarm kostet. Unser effizient arbeitendes Hirn verzichtet schon aus Gründen der Energie- Ersparnis recht bald auf einen Alarm, auf den keine Reaktion mehr folgt.
So lässt sich wohl auch erklären, weshalb bei Phobien eine Desen- sibilisierung, wie sie in der Verhaltenstherapie gang und gäbe ist, oft gute Ergebnisse zeitigt: Dabei setzt sich der Klient ebenfalls der Alarmsituation aus, ohne zu fliehen, also ohne irgendwie zu handeln, und zwar so lange, bis der Alarm nicht mehr anspringt. Ein berühmtes frühes Beispiel dafür ist Goethe, der als Student so oft auf den Turm des Straßburger Münsters stieg, bis er seine Höhenangst überwunden hatte – und das ganz ohne Verhaltenstherapeuten.
Die Introvision bedient einen ähnlichn Wirkmechanismus wie die Expositionstherapie oder EMDR.
Der Wirkmechanismus bei Introvision ist wahrscheinlich der gleiche wie zum Beispiel bei der Expositionstherapie aus der Verhaltenstherapie: Der Patient wird dem Angst auslösenden Reiz ausgesetzt und muss ihn aushalten. Dadurch erschöpft sich die Angstreaktion irgendwann und die Angst hört auf. Aus unserer Sicht passiert etwas Ähnliches auch in der Traumabehandlung mit EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), eine der am besten untersuchten Trauma-Therapien, die besonders schnell wirkt, wenn sie mög- lichst rasch nach der Traumatisierung angewandt wird. Bei dieser Therapieform lässt man den Klienten in seiner Vorstellung in den schlimmsten Teil seines Traumas eintauchen, während er gleichzeitig mit den Augen den Fingern des Therapeuten folgen muss, die vor seinem Gesicht hin- und hergeführt werden. Der Therapeut, der durch die Augenbewegungen des Klienten eine gute Kontrollmöglichkeit hat, um festzustellen, ob der Klient noch im „Hier und Jetzt“ ist oder ob er ganz in seine Erinnerung entgleitet, unterbricht sofort, wenn er ein solches Abgleiten feststellt, um dann wieder neu zu beginnen.
Der Klient stellt sich der Stresssituation, ohne von ihr überwältigt zu werden.
Es steht zu vermuten, dass hier etwa ganz Ähnliches passiert wie in der Introvision: Der Alarm wird durch die Vorstellungskraft aktiviert, doch der Klient kann im Moment nicht davon „überrollt“ werden oder in irgendeine Form von Handlung kommen, weil er gleichzeitig seinen Fokus auf den sich hin- und herbewegenden Fingern halten muss. Durch diese Dissoziation kann er sich dem Trauma stellen, ohne wieder hineingezogen zu werden. Sich auf die momentane Realität zu fokussieren, während in der Vorstellung die Vergangenheit reaktiviert wird, verhindert beim Klienten auch, dass er sich seiner sonstigen Ausweichmanöver bedienen kann, die er bislang nutzt, um den traumatischen Erinnerungen für den Augenblick zwar zu entgehen, sie dadurch aber gleichzeitig auch – und das ist ein ganz wesentlicher Punkt – immer wieder zementiert. Denn ohne den Alarm zu beenden, werden die Erinnerungen und der Stress, den sie auslösen, nicht weniger schlimm.
Im Gegenteil, sie können sich im Laufe der Zeit sogar noch steigern. Das illustriert das Beispiel eine Klientin, die als Bankangestellte in sieben Banküberfälle verwickelt war. Nach dem letzten war sie der psychischen Belastung nicht mehr gewachsen, weshalb sie berufsunfähig geschrieben wurde. Ihr Alarm hatte sich zuerst nur gemeldet, wenn sie eine Bank betreten wollte: Das löste bei ihr Angstzustände mit Herzrasen aus. Einige Zeit später war es der Anblick eines Geldtransporters auf der Straße, bei dem sie in Panik geriet. Zum Schluss genügte es bereits, dass ihr ein kräftiger junger Mann am helllichten Tag auf der Straße entgegenkam, woraufhin sie sich am ganzen Körper zitternd und schweißüberströmt in den nächsten Hauseingang drückte.
Innere Ausweichmanöver erhöhen auf Dauer den Stresspegel.
Auch wenn sie mehr schaden als nutzen: Mit inneren Ausweichmanövern zu reagieren ist trotzdem das, was am häufigsten passiert, wenn wir mit unangenehmen Erinnerungen oder Gedanken konfrontiert sind. Die Studentin mit der starken Prüfungsangst aus unserem bereits erwähnten Beispiel wollte ihre Ängste ebenfalls zunächst dadurch in den Griff bekommen, dass sie versuchte, sich zu beruhigen und sich zu sagen: „Das wird schon gutgehen, du hast doch schon etliche Prüfungen bestanden.“ Diese und ähnliche aufbauende Sätze zeigten jedoch entweder gar keine oder nur sehr kurzfristige Wirkung. Ihr Umfeld reagierte so positiv und aufbauend wie möglich, auch mit der Versicherung, es sei doch gar nicht tragisch, durch eine Prüfung zu fallen und sie solle sich doch einfach entspannen. Doch auch diese guten Ratschläge und Ermunterungen halfen ihr nicht weiter, genauso wenig wie die Versuche ihrer Freunde, sie abzulenken.
Unter dem Aspekt der Introvisionstheorie ist das nicht verwunderlich. Mit genau solchen Mitteln und Methoden versucht der menschliche Verstand, ein Problem kurzfristig zu lösen. Sie sind jedoch eher Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Wenn der Klient aber seine Aufmerksamkeit im realen Augenblick gebunden hat, entweder, wie im EMDR, durch das Beobachten der sich bewegenden Finger, oder, wie im Introvision Coaching, durch die innere Haltung der weiten Wahrnehmung, so hindert ihn das daran, auf den Alarm zu reagieren, der genau dadurch peu á peu gelöscht wird.
Der innere Alarm muss zwingend ausgelöst werden, um ihn dauerhaft zu löschen
Das Aushalten des Alarms, während der Klient nicht in das Geschehen eingreift, ist der zentrale Punkt im Introvision Coaching. Dazu muss der Alarm aber auch vorhanden sein und gespürt werden. Gelingt es dem Coach nicht, den Alarm beim Klienten auszulösen, so passiert nichts: Wenn der Klient den Alarm nicht verspürt, kann er auch nicht gelöscht werden. Es sind unterschiedliche Ursachen denkbar, warum der Alarm nicht ausgelöst werden kann:
Dieser tritt dann aber im realen Leben mit ziemlicher Sicherheit wieder zutage, wenn der Klient entweder von einer Situation überrascht wird, sodass seine inneren Techniken zu spät greifen, oder er das Beruhigungsmittel absetzt.
Da Alarme, die nicht vollständig verschwunden sind, sich wieder reaktivieren können, ist es unserer Auffassung nach von zentraler Bedeutung, dass ein Klient mit dem den Alarm auslösenden Satz
in nichtwertender Beobachtung so lange arbeitet, bis der Alarm definitiv bei „Null“ auf der Bewertungsskala angekommen ist. Wenn Klienten ihre Übungen, die sie mit Introvision zu Hause machen, beenden, weil der Alarm auf der zehnstufigen Skala bereits bei „zwei“ oder bei „eins“ angekommen ist und sie sich damit schon ganz prima fühlen, sodass es sie vielleicht „langweilt“, weiter zu üben, dann riskieren sie, dass ihr Problem sich wieder aufbaut.
Nur gänzlich gelöschte Alarme sind auf Dauer verschwunden.
Wenn der Alarm nicht gänzlich gelöscht wurde, bedeutet das, der Alarm kann auch wieder aktiviert werden. Ein Alarm, der noch nicht bei „Null“ ist, ist noch vorhanden! Er kann also durch einen entsprechend starken Reiz wieder neue Nahrung bekommen. Solange man immer nur
mit schwachen Stimuli konfrontiert ist, ist alles in Ordnung, doch sobald ein starker Reiz kommt, sind alle alten Ängste und Blockaden wieder da. Ein Alarm kann sich von einem niedrigen Level aus wieder zu alter Größe aufbauen. Da die Amygdala die Tendenz hat, immer früher auf Alarm auslösende Reize zu reagieren, kann es also durchaus geschehen, dass man nach einer gewissen Zeit wieder am selben Punkt angelangt ist wie vor der Introvision. Deshalb muss der Coach betonen und darauf achten, dass der Klient mitarbeitet, bis der Alarm wirklich gelöscht ist.
(...)
Wir gehen davon aus, dass, wann immer von einem Menschen innerer Stress erlebt wird, auch ein oder mehrere subjektive Imperative beteiligt sind. Über Imperative haben wir im Kapitel über die theoretischen Grundlagen bereits kurz gesprochen. Klienten brauchen von Coachs jedoch eine leichter nachvollziehbare Erklärung. Die einfachste Erklärung, was ein subjektiver Imperativ ist, lautet:
Der subjektive Imperativ ist eine Art innere Stimme, die befiehlt, dass etwas auf eine ganz bestimmte Art und Weise geschehen muss bzw. dass etwas auf gar keinen Fall geschehen darf, und die gleichzeitig verlangt, dass von dieser Vorstellung nicht abgewichen werden darf.
Ob eine Soll-Vorstellung für jemanden den Charakter eines Impe- rativs besitzt oder nicht, entscheidet sich daran, wie derjenige mit dieser Soll-Vorstellung umgeht. Wenn er sie nach mehr oder weni- ger reiflicher Überlegung auch über den Haufen werfen kann, han- delt es sich bei dieser Soll-Vorstellung nicht um einen Imperativ.
Anzeichen dafür, dass es sich um Imperative handelt,können zum Beispiel sein:
Der Imperativ drängt darauf, eine Situation unter allen Umständen zu vermeiden.
Jedem Imperativ liegen Situationen zugrunde, die als höchst unangenehm, extrem belastend oder gar
traumatisch erlebt wurden. Sie haben Angst, Beschämung, Demütigung oder andere unangenehme Gefühle ausgelöst. In solchen Situationen hat sich die innere Stimme ausgebildet, die dem Sinn nach sagt: „Das will ich auf gar keinen Fall noch einmal erleben!“ Damit wurde in der Amygdala jener Alarm installiert, der dafür sorgen sollte, dass man nach Möglichkeit nie mehr in eine solche Situation geriet. Da subjektive Imperative mit der strikten Selbstanweisung „Gib diesen Imperativ nicht auf!“ gekoppelt sind, wird der Alarm noch größer, wenn der Mensch in eine Situation gerät, in der sein Imperativ verletzt werden könnte.
Die Hierarchie der Imperativ-Kette
Ein Imperativ ist für gewöhnlich kein „Einzelphänomen“. Imperative sind häufig untereinander liegend
angeordnet und werden, da sie durch eine Reihe von „Wenn-dann”-
Annahmen in einer Art Rangfolge miteinander verbunden sind, als
Imperativ-Ketten bezeichnet. Eine solche Imperativ-Kette könnte zum Beispiel so aussehen:
Der Klient unseres nachfolgenden Beispiels für eine solche Imperativ-Kette nahm ein Coaching in Anspruch, weil er sich auf eine wichtige Verkaufspräsentation vorbereiten wollte. Diese Präsentation belastete ihn besonders, weil von ihrem Erfolg auch etliche Arbeitsplätze abhingen. Danach befragt, was denn das besonders Schwierige für ihn an dieser Situation sei, antwortete er: „Es darf mir nicht passieren, dass ich bei der Präsentation womöglich falsche Aussagen treffe. Meine Angaben müssen alle ganz korrekt sein.“ Auf die Frage des Coachs, was das Schlimme daran sei, wenn ihm etwas Falsches unterlaufen würde, kam die Antwort, dass das ja unter Umständen schlimme Konsequenzen nach sich zöge, wenn er etwas versprochen hätte, das die Firma vielleicht gar nicht ein- halten könne. Sein erster Imperativ war also ganz eindeutig: „Ich darf keinen Fehler machen.“
Durch konsequentes Nachfragen nach dem Problem hinter dem Problem kommt der Coach den Imperativ-Ketten auf die Spur.
Daran schloss sich bei ihm die Befürchtung an: „Wenn ich mitten in der Präsentation merke, dass ich Zahlen durcheinandergebracht habe, dann bleibe ich vielleicht sogar hängen.“ Er brachte zur Sprache, dass es eine „Horrorvorstellung“ für ihn sei, wenn ihm plötzlich mitten in der Präsentation der Faden risse und er nicht mehr weiterwisse. Das zeigte einen zweiten Imperativ auf: „Ich darf auf keinen Fall hängenbleiben.“ Der Coach fragte weiter nach dem eigentlich Schwierigen daran und erfuhr, dass es für den Klienten „extrem unangenehm ist, wenn ich nicht weiter weiß und alle auf mich schauen”. Auf die tiefer gehende Frage des Coachs erhielt er schließlich die sehr emotionale Antwort: „Dann fühle ich mich total hilflos und wie gelähmt. Ich bin dann dieser Situation total ausgeliefert, ich kann ja nicht wegrennen. Ich komme auch nicht weiter, ich stecke fest. Alle schauen auf mich und ich weiß nicht, was ich machen soll.“
Diese Angst vor der Hilflosigkeit, dem Ausgeliefertsein ist ein Thema, das viele Manager begleitet. Sie, die daran gewöhnt sind, Dinge zu gestalten, Probleme souverän zu lösen und energisch zu handeln, fühlen sich bei dem Gedanken, rein gar nichts tun zu können, ganz besonders schlecht. Die Imperativ-Kette beim Klienten unseres Beispiels sah also folgendermaßen aus:
Der Kernimperativ löst die stärkste emotionale Reaktion des Klienten aus.
Der letztgenannte Imperativ hatte beim Klienten die stärksten emotionalen Reaktionen gezeitigt. Ein solcher Imperativ wird als Kern-Imperativ angesehen.
Der zuunterst liegende Imperativ wird als „Schlüssel-Imperativ“ oder „Kern-Imperativ“ bezeichnet, weil er die Person am meisten beeinträchtigt. Im Introvision Coaching hat es sich als sinnvoll erwiesen, diese Ketten von oben nach unten zu bearbeiten, auch wenn in der Befragung recht schnell klar werden sollte, um welchen Kern-Imperativ es letztlich geht. Doch sofort in die Tiefe zu gehen, ist für den Prozess nicht hilfreich. Es handelt sich keineswegs um eine „Abkürzung“ der Arbeit, wenn man sofort zu des Pudels Kern vorstößt. Wir haben eher im Gegenteil beobachtet, dass es den Fortschritt der Auflösung verzögert, weil die Angst des Klienten bei den Kern-Imperativen besonders hoch ist. Dadurch steigert sich die unbewusste innere Bereitschaft, lieber ein Ausweichverhalten zu zeigen, anstatt sich den Alarmen zu stellen.
Im Coaching werden die Imperativ- Ketten entsprechend ihres Stress potenzials von oben nach unten bearbeitet.
Deshalb startet man im Coaching am besten mit dem „oberflächlichen“ Imperativ, der vom Klienten auch
meistens als erster zur Sprache gebracht wird. Auf diese Weise kann der Klient auch schon die Erfahrung
machen, dass Introvision wirkt und sich sein Alarm auflöst. Dieses Erfahrungslernen gibt ihm den Mut, sich später den oft noch heftigeren und unangenehmeren Alarmen seines Kern-Imperativs zu stellen. So, wie es im oben erwähnten Beispiel vernünftig war, zunächst mit dem Imperativ „Ich darf keine Fehler machen“ zu beginnen und dann erst die belastenderen Imperative zu bearbeiten.
Kern-Imperative berühren existenzielle Themen.
Kern-Imperative sind zwar von Mensch zu Mensch verschieden und werden von jedem in höchst eigener
Art und Weise zum Ausdruck gebracht, doch unserer Erfahrung nach gehen sie letztlich meist auf die folgenden vier existenziellen Themen zurück. Man befürchtet:
Mit der Angst vor dem Verlust des Lebens ist zunächst nicht die „natürliche“ Angst vor dem Tod gemeint. In diesem Kontext han- delt es sich um jene Form von tiefer Angst, die ein Mensch emp- finden kann, wenn sein Imperativ so stark ist, dass er sich nicht vorstellen kann, das zu überleben, wenn eintritt, was nicht sein darf. Mit einem solch starken, existenzbedrohenden Imperativ hat man es meistens zu tun, wenn jemand befürchtet, seinen Partner oder seine Familie zu verlieren. Der Imperativ „Ich darf auf gar kei- nen Fall meinen Partner verlieren“ kann für Menschen eine solche Intensität gewinnen, dass sie wirklich davon überzeugt sind, dass ihr Leben einfach endet, wenn der Partner gehen sollte.
Auch die Angst vor dem Verlust des Vermögens, des Ansehens oder der Ehre kann solche Ausmaße annehmen, dass jemand glaubt, so etwas nicht zu überleben. Und es kann ja auch so weit gehen, dass jemand tatsächlich selbst seinem Leben ein Ende setzt, weil er den Alarm, den solche Verluste auslösen, nicht verkraftet.
Sogar in Todesangst kann der Mensch besonnen und handlungsfähig bleiben.
Dass aber selbst der Alarm, den die „natürliche“ Todesangst verursacht, gelöscht werden kann, kann man immer wieder Berichten von Menschen entnehmen, die sich in Todesgefahr befunden haben. Sie akzeptierten, dass sie in dieser Situation ihr Leben verlieren könnten, wodurch sie ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangten. Statt von Panik gelähmt zu sein, waren sie in der Lage, überlegt zu handeln und mit der Gefahr umzugehen. Dass so etwas möglich ist, scheint doch ein Beweis zu sein, dass man jeden Alarm löschen kann, wenn man bereit ist, sich ihm zu stellen.
Ein in unseren Augen besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man selbst die denkbar grauenvollsten Lebensumstände bewältigen und dadurch überleben kann, bietet das Buch „Das wiedergefunde- ne Licht“ von Jacques Lusseyran (dtv, München 1992). Der Autor, der aufgrund eines Unfalls mit acht Jahren erblindete, schildert darin auf bewegende Weise, wie er nicht nur von Beginn an seine Blindheit akzeptierte und sie dadurch in gewisser Hinsicht „über- wand“, sondern auch, wie er als ganz junger Mann das Konzentra- tionslager Buchenwald als einer der ganz wenigen, dort gefangenen französischen Resistance-Kämpfer überlebte. Dies gelang ihm, indem er die Situation als die gegenwärtige Realität, die sie war, annahm, mit allem Entsetzlichen, was er und die anderen durch- leiden mussten. Er stellte sich seiner Angst, der Lebensgefahr, den Schmerzen und dem Tod – und das gab ihm die Kraft zu überleben.
Angstgefühle reduzieren sich, wenn man sie akzeptiert.
Sehr viel weniger dramatisch haben das wahrscheinlich schon eine ganze Reihe von Menschen erlebt, die mit dem Flugzeug in schlimme Turbulenzen geraten sind. Ein Klient berichtete von einer solchen Situation, wie er als Passagier einer zweimotorigen Propellermaschine mitten in eine tiefschwarze Gewitterwand flog. Das Flugzeug wurde mit Wucht hinauf und hinunter geschleudert, rechts und links waren heftige Blitze zu sehen. Das verursachte bei ihm zunächst Panik und Existenzangst. Doch ihm half dann tatsächlich der Gedanke, dass es ja nun wirklich sein könne, dass er abstürzt und sein Leben verliert. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Gedanken „Es kann sein, dass ich jetzt sterbe“ führte paradoxerweise genau dazu, dass die Angst sich reduzierte und er wieder ruhig wurde.
Hinter ausgeprägtem Statusdenken steckt meist das Bedürfnis, anerkannt und gemocht zu werden.
Auch im Business-Coaching hat man es häufig mit Imperativen zu tun, die ihren Ursprung in der Angst vor dem Verlust von Liebe oder Anerkennung haben. Die vielen Status-Symbole, mit denen sich Manager so häufig umgeben, sind schließlich meistens nichts anderes als der Material gewordene Ruf: „Ich bin wer, bitte achtet mich und habt mich lieb!“ Dahinter steckt die unausgesprochene und uneingestandene Furcht: „Denn ich weiß gar nicht, ob ich liebenswert und achtenswert bin.“ Verschärft wird die Angst vor dem Verlust der Wertschätzung, auch der eigenen, wenn Menschen arbeitslos werden. Wer sich nur oder in erster Linie über Leistung definiert, fühlt sich vollkommen wertlos, wenn er nicht gleich wie- der einen neuen Job findet.
Schwierig wird es, wenn die Grenzen zwischen Rolle und Selbstbild verschwimmen.
Hier spielt oft eine zweite Problematik mit hinein: Gerade wer in der Hierarchie eines Unternehmens sehr hoch aufgestiegen ist, neigt dazu zu übersehen, dass all die Beachtung, die Anerkennung und auch das servile Verhalten des Umfelds nicht seiner Person, sondern lediglich seiner Rolle geschuldet sind. Das Missverhältnis wird zwar vielleicht auf irgendeiner unbewussten Ebene gespürt. Aber man hat sich so daran gewöhnt, dass andere sich um einen kümmern, dass die „niederen Dinge des Alltags“ von einem fern gehalten werden, dass alle Türen sich öffnen, wenn man erscheint, dass man glaubt, ein „natürliches“ Anrecht darauf zu haben – und all den Klimbim auch braucht, um das Selbstbild aufrechtzuerhalten. Umso größer ist dann die Furcht, dass von einem selbst gar nichts mehr übrig bleibt, wenn die Rolle weg ist. Das kann bis zur Depression führen oder zumindest eine tiefe Krise auslösen.
Auch die Angst davor, in den Einschätzungen der Umwelt nichts mehr wert zu sein, findet sich im Business-Coaching oft genug. „Wenn ich in dieser Situation versage, bin ich in meiner Firma unten durch!“ Dieser Glaube wird von vielen Klienten geteilt, selbst wenn sie auf einer rationalen Ebene wissen, dass das so nicht stimmt. Auch in Coachings mit Top-Managern stellt sich immer wieder heraus, dass es selbst bei dieser äußerst erfolgreichen Gruppe eine ganze Reihe Menschen gibt, die unter großen Ängsten leiden. Sie werden überall geschätzt und hofiert, sie reihen einen Erfolg an den anderen – und doch lässt sie die Angst nicht los, sie könnten das alles von heute auf morgen verlieren.
Steigt man in einem Gespräch tiefer in diese Gefühlswelt ein, kann man häufig feststellen, dass sie genau von dem Umstand eingeholt werden, der der eigentliche Grund für ihre Karriere war: Sie hatten als Kind in irgendeiner Form Schwierigkeiten, sei es, dass sie sich von ihrem familiären Umfeld nicht angenommen fühlten, sei es, dass sie wegen roter Haare, abstehender Ohren oder einem fremden Dialekt von ihren „Peers“ in der Klasse nicht akzeptiert wurden. Für ein Kind oder einen Jugendlichen sind solche Erfahrungen bedrohlich. Gerade in dem Alter, in dem Menschen versuchen herauszufinden, wer sie eigentlich sind, ist die Zurückweisung durch das Umfeld besonders schmerzhaft und einschränkend.
Solche oder ähnliche Erfahrungen führten dazu, dass sie sich unbewusst schworen, so etwas nie wieder zu
erleben. In Zukunft wollten sie allen beweisen, dass sie etwas wert sind, um sich nie mehr so niederge-
macht zu fühlen. Also setzen sie alles daran, die fehlende innere Sicherheit durch äußere Erfolge zu ersetzen. Sie sind sehr ehrgeizig und legen eine Musterkarriere hin. Doch da die inne- re Grundlage – ein gefestigtes Selbstwertgefühl – nicht vorhanden ist, lauert immer im Hintergrund die Angst, das alles könnte wieder verloren gehen oder man könnte als „Hochstapler“ entlarvt und dann ebenfalls ausgestoßen werden. Je höher jemand aufgestiegen ist, desto tiefer stellt er sich seinen Fall vor. Und gleichzeitig wird mit jedem Aufstieg sein berufliches Umfeld tatsächlich unsicherer: Im Top-Management kann es sehr schnell gehen, dass man abgesägt wird. Ein Top-Manager ist dauernd in der Situation, Entscheidungen treffen zu müssen, die eine gewisse Unsicherheit mit sich bringen, die komplett schiefgehen oder zumindest für das gesamte Unternehmen sehr schlecht ausgehen können, sodass die Angst, er könnte fallen, auch permanent genährt wird.
Interessant ist, dass finanzielle Absicherung für diese Klienten keine wirkliche Beruhigung darstellt. Sie haben zwar häufig die Strategie verfolgt, möglichst viel Geld auf die hohe Kante zu schaufeln, um für die begehrte „finanzielle Sicherheit“ zu sorgen – das vermittelt ihnen aber keineswegs ein Gefühl von Sicherheit. Selbst wenn ihrem Verstand klar ist, dass sie mit ihrem Vermögen auch ohne Job für den Rest ihres Lebens sorgenfrei leben könnten, verändert das nichts an ihren Ängsten. Auch der Aufstieg in höchste Ämter, die Bewunderung von außen sowie beständige Rückmeldungen, dass sie einen hervorragenden Job machen, beruhigen sie immer nur kurzfristig.
Der berufliche Erfolg macht die Existenzängste nur noch größer.
Diese Angst, die gleichzeitig Hemmschuh und Triebfeder ist, war bei einem Klienten vorhanden, der als internationaler Vorstand eines großen Konzerns anerkanntermaßen sehr erfolgreich war. So enorm wie seine Leis- tungen waren allerdings auch seine Existenzängste. Er fürchtete permanent, seine Stellung zu verlieren, und jede etwas größere Geldausgabe verursachte ihm, trotz seines sehr hohen Einkommens, schlaflose Nächte. Er erlebte insgesamt sehr viel Stress, was jedoch weniger auf das Konto seiner Arbeitsbelastung ging als auf seine permanente innere Unsicherheit. Er verließ sich nie auf den Wert seiner Arbeit und bezweifelte bei allem, was er tat, ob es das Richtige sei. Seine inneren Alarme sprangen ständig an und hielten ihn unter Hochspannung. Das bewirkte eine große Gereiztheit, die er im Umgang mit den Mitarbeitern noch ganz gut im Griff hatte, aber in der Familie nicht mehr. Die daraufhin entstehenden Spannungen in der Familie forderten eine enorme zusätzliche Energie.
Im Coaching bestand die erste Aufgabe darin herauszufinden, welche Angst genau bei diesem Klienten die vorherrschende Rolle spielte. War es die Angst, den Job zu verlieren, oder war es die Angst davor, „enttarnt“ zu werden? Wie sich herausstellte, löste die Angst davor, seine Stellung zu verlieren, den größten Alarm aus. Bei dem Satz „Es kann sein, dass ich meinen Job verliere“ reagierte er auf der Körperebene mit Stechen im Bauch sowie Engegefühlen in der Brust. Zudem nahm er den starken Wunsch wahr, wegzulaufen und sich zu verkriechen. Den Alarm schätzte er auf der zehn- stufigen Skala in der Anfangsphase bei neun ein, wobei sich der Wert jedoch bereits in der ersten Runde auf eine Vier verringerte.
In diesem Fall war es für den Klienten sehr hilfreich, ihm nicht nur die Methode des Introvision Coaching für das Üben zu Hause beizubringen. Des Weiteren vermittelte ihm der Coach, dass diese Haltung der Achtsamkeit, also des reinen Beobachtens, ohne sogleich auf den inneren Stress zu reagieren – entweder dadurch, dass man in Spannung gerät oder indem man versucht sich abzulenken –, ihm auch im Alltag eine wertvolle Unterstützung sein würde, um mehr Gelassenheit zu entwickeln. In einer Nachbesprechung betonte der Klient dann auch, wie wichtig es für ihn gewesen war, sich in alltäglichen Situationen immer wieder daran zu erinnern, den eigenen Stress nur wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten und ohne einzugreifen. Er machte die Erfahrung, dass er schon allein dadurch seinen Stress meistens recht schnell wieder los war.
Den Klienten treibt die Angst, als „Low Performer” enttarnt zu werden.
Ein Beispiel für die Angst vor „Enttarnung“ war jener Klient, der als Führungskraft so viel arbeitete,
dass man mit Fug und Recht von Selbstausbeutung sprechen konnte. Er strampelte sich so fürchterlich
ab, weil jede Andeutung einer Unzufriedenheit seitens seines Vor- gesetzten bei ihm zu einem emotionalen Absturz führte. Hinterher strengte er sich noch mehr an, um dem Vorgesetzten gerecht zu werden. Er fühlte sich für alle seine Mitarbeiter voll verantwortlich und jeden Fehler, der einem Mitarbeiter unterlief, fühlte und bewertete er wie einen eigenen.
Der massive innere Druck, den der Klient auf sich selbst ausübte, gefährdete auch seine Beziehungen – schon mehr als eine war unter dieser Belastung zerbrochen. Außerdem ärgerte er sich über sich selbst, wenn er merkte, dass er nicht imstande war, seine eigenen Ideen seinem Vorgesetzten gegenüber zu vertreten. Er knickte immer wieder sehr schnell ein und gab auf. Das schmälerte jedoch enorm seine Freude an der Arbeit und führte dazu, dass er immer häufiger in innere Krisen geriet und sich fragte, ob seine aktuelle Stelle für ihn überhaupt Sinn machte. Aus all diesen Gründen entschloss er sich zu einem Coaching.
In der Analyse kam sehr schnell die Beziehung zum Vater zur Sprache. Der Vater hatte ihn immer wieder abgewertet und die Schwester bevorzugt. Diese Schwester, die in der Schule nur mittelprächtige Leistungen zustande brachte, wurde ständig gelobt, während seine hervorragenden Leistungen, die ihm in der Klasse schon den Ruf eines Strebers eingebracht hatten, nichts weiter bewirkten, als dass der Vater ihm immer wieder zu verstehen gab, dass er dumm und faul sei und im Grunde zu nichts zu gebrauchen.
Der Versuch des Klienten, über Leistung die Anerkennung des Vaters zu erringen, führte zu keinerlei Erfolg, der Vater nahm das einfach nicht zur Kenntnis, sondern erklärte ihn trotz dieser guten Leistungen für unfähig. Beim Klienten etablierte sich daraufhin die innere Überzeugung, dass er eigentlich wirklich nichts zu bieten habe.
Der Imperativ lautet: „Ich bin nicht gut genug ...”
In der Aufarbeitung im Coaching wurde klar, dass der Klient diese ganze Problematik auf seinen Chef projiziert hatte. Wann immer der Vorgesetzte ein Anzeichen von Unzufriedenheit zeigte, wurde der alte Alarm aktiviert, zusammen mit dem ganzen Stress, der damit verbunden war. Der erste Versuch, den Alarm direkt über die Beziehung zum Vater aufzulösen, schlug jedoch fehl. Bei dem Satz „Es kann sein, dass ich meinem Vater nicht genüge“, emp- fand der Klient nur eine Belastung von vier, obwohl deutliche Reaktionen auf der Körperebene vorhanden waren. Nach einer weiteren Analyse entschieden sich Klient und Therapeut für den Satz: „Es kann sein, dass ich einfach nicht gut genug bin, egal, was ich tue.“ Das löste einen hohen Alarm aus verbunden mit einem starken Empfinden des Ausgeliefertseins. Der Klient verspürte eine tiefe Trauer, mit Schmerzen in der Brust und starken Verspannungen im Nacken und in den Schultern.
Während des ersten Settings mit diesem Satz reduzierte sich der Alarm von neun auf fünf, beim zweiten von sechs auf vier. Der Klient übte noch längere Zeit allein weiter, bis er seinen Alarm ganz auf Null gebracht hatte. Abschließend berichtete er, dass er im Alltag große Auswirkungen spürte: Er empfand plötzlich ein Gefühl von innerer Freiheit und er erlebte, dass er viel mehr Wahlmöglichkeiten im Umgang mit seinem Chef hatte. Insgesamt reagierte er auf ihn viel gelassener und entspannter als früher.
Gerade „Macher” können das Gefühl der Hilflosigkeit nicht ertragen.
Die Angst davor, in eine Situation der Hilflosigkeit zu geraten, in der man nicht mehr handlungsfähig ist, ist gerade für Manager, die gewohnt sind, „alles zu managen“, schwer zu ertragen. Ein Manager zum Beispiel, der aufgrund seiner Arbeitsbelastung einen Tinnitus entwickelte, fand das fast zum Verrücktwerden. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das Gefühl, diesem Geräusch total ausgeliefert zu sein, konnte er schier nicht aushalten. Er hatte bislang nach dem Motto gelebt „Ich kann Dinge beeinflussen, gestalten, verändern“ und es war ihm sehr wichtig gewesen, immer die „Oberhoheit“ über sein Leben zu haben. Er legte sich also – als der „Macher“, der er war – einen Plan zurecht, wie er diesen Tinnitus „killen“ könnte. Nur hilft das bei Tinnitus leider nicht. Mit solch einem Leiden muss man ganz anders umgehen: Man muss lernen, sich auf das störende Geräusch einzulassen, anstatt dauernd dagegen anzukämpfen. Das stand in krassem Gegensatz zu seinem Kern-Imperativ: „Ich darf auf gar keinen Fall hilflos sein.“
Achtsamkeit bezeichnet die nicht wertende, nicht eingreifende, aufmerksame Wahrnehmung.
Der Impuls, auf den inneren Alarm zu reagieren, indem man ent- weder irgendwie eingreift oder versucht, sich zu entziehen und davonzulaufen, ist für gewöhnlich ziemlich stark. Umso wichtiger ist es für den Coach, dem Klienten Hilfsmittel an die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, den Alarm auszuhalten, ohne dem eigenen Impuls zu folgen. Dieses Hilfsmittel ist die Technik der Achtsamkeit und zwar in dem Sinne, wie sie in dem von Jon Kabat-Zinn entwickelten Mindfulness Based Stress Reduction Programm (MBSR) verwendet wird. Achtsamkeit, wie sie im MBSR gelehrt wird, ist eine Form der nicht wertenden, nicht eingreifenden, aufmerksamen Wahrnehmung bzw. der reinen Beobachtung dessen, was sich kör- perlich, mental und emotional ereignet. Diese Form der Achtsam- keit ist frei von jeder möglichen oder unmöglichen „spirituellen“ Oberbedeutung und es dreht sich bei ihr auch nicht um das Erreichen irgendwelcher spirituellen Ziele.
Achtsamkeit – sowohl eine mentale Technik als auch eine Haltung.
Achtsamkeit in unserem Sinne ist eine mentale Technik, um einen Bewusstseinszustand herzustellen, in dem der Mensch wach registriert, was sich in seinem Inneren abspielt, sowohl auf der körperlichen Ebene als auch was die Gefühle betrifft, die ihn packen, oder die Gedan- ken und Erinnerungen, die auftauchen: Er ist der aufmerksame Zuschauer eines interessanten „Theaterstücks“, von dem er alles mitbekommt – jedoch rennt er weder auf die Bühne, um die Hand- lung zu ändern, wenn sie ihm nicht gefällt, noch läuft er aus dem Zuschauerraum davon, weil er die dargestellten Bösewichter für real hält. Wir sprechen im IntrovisionCoaching deshalb auch häufig einfach von der Haltung der „weiten Wahrnehmung“, die jemand einnehmen soll.
Im Zustand der Achtsamkeit oder der weiten Wahrnehmung ist man gewissermaßen „passiv“ in dem Sinne, dass man nichts erwartet, nichts sucht und auch nichts versucht, um irgendwelche Bilder und Erinnerungen wieder herzustellen. Man gibt einen Gedanken nach innen und wartet einfach darauf, was dieser Gedanke körperlich, mental und emotional bewirkt. „Aktiv“ ist man nur in dem Sinne, dass man den achtsamen Zustand aufrechterhält. Man betrachtet das „Theaterstück“, ohne die Handlung zu kennen, weshalb man nicht weiß, was als nächstes auf der Bühne passieren wird. Auch wenn die Bühne vielleicht erst einmal leer bleibt, schaut man zu und wartet, was sich schließlich doch noch einstellen wird. Im MBSR lernt man, einfach alles, was körperlich, gefühlsmäßig oder gedanklich passiert, nicht wertend zuzulassen und wahrzunehmen.
Der Körper reagiert vielleicht mit Verspannungen, Druck oder Schmerzen, die Gefühle reagieren vielleicht mit Angst, Wut, Traurigkeit oder Scham und die Gedanken reagieren vielleicht mit einer Folge von Erinnerungen, Bildern oder weiteren Gedanken – manchmal auch solche, mit denen man auf den ersten Blick gar nichts anfangen kann. Und manchmal kommt es auch zu Tränen, ohne dass man ein Gefühl der Trauer verspürt, vielleicht, weil die Tränen sich auf ein Ereignis beziehen, das vor dem Spracherwerb stattgefunden hat. Doch weder unerklärliche Gedanken noch unerklärliche Tränen dürfen einen zum Grübeln darüber, was das nun wohl zu bedeuten hat, verleiten, denn das würde bereits ein Eingreifen darstellen. Alles, was kommt, wird betrachtet und damit akzeptiert, ohne es zu werten.
Im Introvision Coaching gilt die Achtsamkeit dem Umgang mit den eigenen inneren Alarmen.
Im Coaching hat man für gewöhnlich nicht die Zeit, den Klienten zuerst in einen achtwöchigen Einführungskurs von MBSR zu schicken, um ihm die achtsame Wahrnehmung beizubringen. Wir haben die Erfahrung gemacht, die sich seither auch immer wieder bestätigt, dass das auch nicht nötig ist. Das Format, das wir entwickelt haben, um mit Klienten oft schon in der ersten Sitzung mit Introvision Coaching zu arbeiten, ermöglicht ihnen sehr schnell umzusetzen, wie sie Achtsamkeit im Umgang mit ihren Alarmen einsetzen können.
Aber so, wie ein Klient damit überfordert wäre, wenn er erst einmal acht Wochen geduldig üben müsste, bevor es zur Sache geht, so überfordert wäre er selbstverständlich damit, wenn man ihm lediglich sagte: „So, wir lösen jetzt Ihren Alarm aus und Sie bleiben einfach nur sitzen und schauen sich das mit weit gestellter Wahrnehmung an. Sie beobachten nur, ohne in irgendeiner Form ein- zugreifen, weder durch Atemberuhigung noch durch analytisches Nachdenken. Sie lassen aufsteigen, was da kommt, und alles ist gut.“ Damit wären wahrscheinlich selbst „Achtsamkeitsprofis“, die das seit Jahren üben, überfordert.
Eine Anleitung unterstützt den Klienten, zügig in einen achtsamen Zustand zu kommen.
Wir haben uns also überlegt, wie man jemanden so weit stabilisieren kann, dass es ihm möglich ist, in diesem achtsamen Zustand zu bleiben und sich dem Alarm auszusetzen, ohne davon überwältigt zu werden. Dabei waren die Erfahrungen des Autors als MBSR-Lehrer eine große Unterstützung. Wenn man Menschen in MBSR unterrichtet, so leitet man sie an, in einen achtsamen Zustand zu gelangen. Anders als in manchen Meditationsverfahren, bei denen den Übenden nur gesagt wird, sie sollten sich z. B. auf den eigenen Atem konzentrieren und sich alle weiteren Hinweise in einem Gongschlag zum Anfang und einen Gongschlag am Ende erschöpfen, gibt es im MBSR eine konkrete Anleitung, die den Übenden darin unterstützt, immer wieder in den achtsamen Zustand zurückzukehren.
Wir halten die Achtsamkeit nicht für einen statischen Zustand, den man einmal erreicht und dann mühelos hält. Vielmehr sind wir der Ansicht, dass „achtsam sein“ ein dynamischer Prozess ist, bei dem man die Achtsamkeit herstellt und wieder verliert, aufs Neue herstellt und wieder verliert, so lange, bis man die Übung beendet. Man kann sich das vielleicht ähnlich vorstellen wie das Halten des Gleichgewichts beim Radfahren. Auch das ist kein statischer Zustand, sondern muss von Moment zu Moment neu kalibriert werden. Der Radfahrer kippt immerzu ein bisschen nach links und ein bisschen nach rechts, doch je geübter er ist, desto weniger kippt er und desto besser fährt er geradeaus.
Doch wie kann man es Klienten ermöglichen, sich nicht von den eigenen Gedanken gefangen nehmen und von ihnen forttragen zu lassen, bis sie genau da gelandet sind, wo sie bislang immer ende- ten, wenn sie entweder über ihr Problem grübelten oder versuch- ten, es zu analysieren? Der Gedanke, sie mithilfe einer Anleitung, wie sie auch im MBSR üblich ist, während der gesamten Übung des Sitzens mit dem alarmierenden Gedanken zu begleiten, erwies sich als tragfähig. Die Anleitung hat sich sehr gut bewährt, um den Klienten zu helfen, auch angesichts eines starken Alarms in der „weiten Wahrnehmung“ zu bleiben beziehungsweise immer wieder in diesen Zustand zurückzukehren. Die Klienten werden durch die Anleitung immer wieder daran erinnert, dass alles, was sich im Inneren ereignet, in Ordnung ist und sie es sich lediglich anschauen sollen. Damit gelingt es den Klienten innerhalb eines knapp zehnminütigen Settings, selbst hohe Alarme zu reduzieren.
Wichtig: Der Klient übt zu Hause mit der Anleitung weiter.
Alarme, die von Klienten auf der von eins bis zehn reichenden Skala bei neun eingestuft wurden, konnten mithilfe der Anleitung in nur einem Setting so weit gemildert werden, dass sie schließlich nur noch als eine Vier oder Fünf auf der Skala empfunden wurden. Eine Belastung, die sich anschließend in einem zweiten Setting bis auf Zwei oder Drei herabmindern ließ. Um den Alarm weiter zu reduzieren, erhielten die Klienten die Hausaufgabe, täglich für etwa zehn Minuten so lange allein weiter zu üben, bis sie entweder bei der „Null“ angekommen waren oder die nächste Coachingsitzung hatten. In dieser zweiten Sitzung kam dann oft folgende Rückmeldung: „In Ihrem Büro zu üben, mit Ihrer Stimme im Ohr mit der
Anleitung, ist es mir sehr viel leichtergefallen, in diesem Zustand der weiten Wahrnehmung zu bleiben. Zu Hause, wenn ich mich allein hingesetzt habe, bin ich immer wieder abgedriftet oder ich habe gemerkt, wie ich meine Gedanken und Gefühle verändern wollte.“ Das brachte uns schließlich auf die Idee, die Anleitung für den jeweiligen Klienten während der Sitzung aufzunehmen und sie ihm mit nach Hause zu geben beziehungsweise sie ihm als Audio-Datei zu schicken.
Damit gelingt es den Klienten sehr viel besser, für sich allein zu üben, weshalb sich diese Vorgehensweise noch als beste erwiesen hat, obwohl sie auch gewisse Nachteile mit sich bringt. Wenn die Klienten die Anleitung oft genug gehört haben, wissen sie natürlich genau, an welcher Stelle der Alarm auslösende Satz auftaucht, und können sich deshalb innerlich schon darauf einstellen. Ihre Zusatzaufgabe lautet deshalb, zu lernen, auch das einfach nur zu beobachten und es nicht zu bewerten.