Renates Kolumne: Der genaue Blick

| Renate Dehner
Wenn man nicht gerade blind ist oder zu erblinden droht, ist Sehen einerseits eine Selbstverständlichkeit und andererseits das am wichtigsten erscheinende Mittel, die Welt zu erleben. Über die „Macht der Bilder“ ist ja auch schon genügend gesagt, geforscht und geschrieben worden – vergessen wir auch nicht das berüchtigte „sehen und gesehen werden“.
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Inzwischen drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass für eine stetig wachsende Menge von Leuten das Sehvermögen hauptsächlich noch genutzt und geschätzt wird als Möglichkeit, Nachrichten auf dem Handy zu lesen oder zu schreiben. Wenn ich zum Beispiel am See entlang spaziere oder durch unsere schöne Altstadt schlendere, habe ich oft den Eindruck, dass die wenigsten Menschen, die mir begegnen, wirklich etwas von ihrer Umgebung sehen. Wenn sie nicht direkt auf ihr Handy starren, nutzen sie es, um vor herrlicher, respektive malerischer Kulisse Selfies zu machen, oder zu telefonieren, den Blick glasig ins Nirgendwo gerichtet, oder sie haben Stöpsel im Ohr, um sich mit aufs Handy gestreamter Musik berieseln zu lassen – zweifellos um der „Langeweile“ eines Ganges zu entgehen. So abgelenkt, sieht man wahrscheinlich bestenfalls noch die Hälfte von dem, was zu sehen wäre.

Selbst im Museum wird häufig, statt dass man sich direkt auf die Kunst einlässt, das, was einem gefällt, mit dem Handy fotografiert und so hasten die Menschen auf der Suche nach „Highlights“ durch die Räume – keine Ahnung, ob sie sich davon versprechen, ihrem Handy einen Kunstgenuss zu ermöglichen oder ob sie den Plan verfolgen, sich dadurch später selbst die Gewissheit verschaffen zu können, tatsächlich dagewesen zu sein, körperlich, während sie in Gedanken auf Instagram waren.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die beste Reproduktion auch nicht annäherungsweise heranreicht an das direkte Kunsterlebnis, die unmittelbare Wahrnehmung, wenn man vor einem Kunstwerk steht. Aber da geht noch mehr! Wenn Sie überhaupt Spaß daran haben, in ein Museum zu gehen, möchte ich Ihnen ein Buch empfehlen, dass auf hervorragende Weise darstellt, wieviel mehr man sehen kann. Man muss sich dazu allerdings beschränken. Eben nicht auf der Suche nach Highlights durch möglichst alle Räume hetzen, sondern sich einige wenige Kunstwerke aussuchen und bei denen mal auf die Details achten. Auf sich wirken lassen, was diese Details einem sagen und sich darüber freuen, was man alles auf Bildern entdecken kann. Wir sprechen jetzt von Bildern alter Meister, diesen Detailreichtum finden Sie wohl hauptsächlich dort. Vielleicht ist die Autorin dieses sehr empfehlenswerten Buches auch einfach eine Liebhaberin alter Meister, während ihr zeitgenössische Kunst nicht zusagt, darüber weiß ich nichts. Mir geht es jedenfalls so, dass ich nicht gerade ein Fan zeitgenössischer Kunst bin, weil ich sie meist sterbenslangweilig finde. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen, keine Frage. Wie auch immer, was den Detailreichtum anbelangt, haben die alten Meister auf jeden Fall sehr viel mehr zu bieten als die meist eher plakativen neueren Werke.

Das Buch, von dem ich spreche, heißt „Sieh hin!“, wurde von der niederländischen Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil geschrieben und ist im Verlag E.A. Seemann erschienen. Es ist sehr locker und leicht geschrieben, liest sich also wunderbar, ist kein bisschen Theorie lastig, sondern einfach ein Vergnügen, das große Lust darauf macht, demnächst mal wieder ins Museum zu gehen. Außerdem ist es aus einem weiteren Grund interessant für Menschen, die von Berufs wegen, wie es wohl für sehr viele Leser dieser Kolumne zutrifft, genau hinsehen, beziehungsweise hinhören, jedenfalls auf die Details achten müssen. Die Autorin hat für ihr Buch nämlich einige Interviews geführt mit Leuten, die keineswegs im künstlerischen Bereich arbeiten, für ihre Tätigkeit aber sehr, sehr genau hinsehen müssen. Ich fand das ausgesprochen spannend. Es würde mich sehr freuen, wenn Ihnen dieses schöne Buch, so wie mir, eine willkommene intelligente Ablenkung und kurze Auszeit verschaffen würde von all den schrecklichen Nachrichten, mit denen wir uns zur Zeit herumschlagen müssen – und außerdem einen kleinen Anstoß, mal wieder genauer hinzuschauen. Ist in Zeiten von Fake news und „alternative truths“ ja auch nicht verkehrt.