Welch eine dämliche Alternative!

| Alice Dehner
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Entwarnung!!! Es geht nicht um die AfD… Ganz im Gegenteil sozusagen: Als überzeugte Europäerin stehe ich nun Sonntag für Sonntag um Punkt 14 Uhr bei uns in Konstanz im Stadtgarten am „Gondelehafen“ (für alle Nichteingeweihten: Gondele sind die Tretboote für die Touristen), um den Pulse of Europe zu spüren oder spürbar zu machen, ganz wie man will. Jedenfalls finde ich das eine prima Idee, und dass es bei uns in Konstanz eine, sagen wir mal, eher amateurhafte Veranstaltung ist, macht ja gerade ihren besonderen Charme aus. Am ersten Sonntag, das war am 12. März, war die Lautsprecheranlage so schlecht, dass außer in den ersten zwei Reihen kein Mensch auch nur ein Wort von dem verstanden hat, was die beiden Redner von sich gaben. Das machte aber gar nichts, wir in den hinteren Reihen haben trotzdem kräftig geklatscht - wird schon recht gewesen sein, was der freundliche Mensch und wackere Europäer zu sagen hatte.

 

Allerdings wurde meine Geduld dann doch noch auf eine harte Probe gestellt. Nämlich als es zum Abschluss der vernünftigerweise auf eine halbe Stunde beschränkten Versammlung ans Singen ging. Der öffentlich Gesang von Menschen, die häufig dafür nicht die optimalen Voraussetzungen mitbringen, ist für meine Ohren schon schwierig genug. Um solch einem Projekt nicht den finalen Todesstoß zu versetzen, halte ich selbst dabei auch eisern den Mund, denn wäre ich ein Vöglein, ich wäre wohl eher als Elster aus dem Nest geschlüpft denn als Nachtigall. Aber das Andere genauso falsch singen wie ich, ohne sich solche Zurückhaltung aufzuerlegen, war diesmal gar nicht mein Problem.

 

Es ging ums Lied. Wenn es ein Lied gibt, mit dem man mich normalerweise in die Flucht schlagen kann, ist es der alte Schunkelsong von Hilde Knef „Für mich soll’s rote Rosen regnen“. Gruselig!!! Nun hat man gnädiger- und Anlass-angemessener Weise den dämlichen Text umgedichtet. Der Anfang dieser Konstanzer Europa-Hymne lautet jetzt „Für uns soll’s offene Grenzen geben“, wie es weitergeht, weiß ich nicht mehr, und so weit war es ja auch so gut. Leider hat man das, was mir zuverlässig die Zehennägel nach oben biegt, unverändert gelassen: „Ich will alles oder nichts!“ Dreimal gruselig!!!

 

„Ich will alles oder nichts!“ Das klingt so wunderbar radikal, nicht wahr? So nach Leidenschaft und Kompromisslosigkeit! Nach: das volle Leben auskosten und nach mir die Sintflut, oder so. Es klingt so nach Lebenshunger in der Variante „wild und unbezähmbar“!

 

Für mich klingt es nur dumm und zwar in der Variante „abgrundtief“. Alles oder nichts - als Alternativenangebot ein totaler Quatsch! Im Go gibt es eine alte Weisheit, die lautet „Wer alles will, verliert alles“. Alles zu wollen, das bedeutet, alles zu zerstören. Ich kriege eine Wut, wenn ich nur daran denke! Jetzt kann man einwenden „So viel Gedöns wegen einem blöden Schlager“, okay, ist ja wahr. Aber es steckt eben mehr darin - alles zu wollen ist in den vergangenen, was weiß ich, zwanzig, dreißig Jahren, doch fast zum allgemeinen Lebensstil der westlichen Welt geworden. Wir wollen alles haben, sofort und auf der Stelle. Dass die Ressourcen unseres Planeten dabei draufgehen, wen kümmert’s, Hauptsache, wir haben alles und uns geht es gut. Und wenn dann so ein Schunkelschlager daherkommt und der Quatsch gefühlig und mit Pathos gesungen wird, dann glauben wir auch noch daran, dass „alles zu wollen“ doch eine vertretbare Lebenshaltung sei.

 

Der wunderbare Kinderbuchautor Maurice Sendak hat vor vielen, vielen Jahren einen nimmersatten Knirps erfunden, der in seiner Gier wütend forderte: „Es muss im Leben mehr als alles geben!“ Da kenne ich heute noch ein paar aus dem politischen und dem Wirtschaftsteil der Zeitung bekannte Gestalten - und ich meine keineswegs nur den rotgesichtigen Pavian mit der lächerlichen Haartracht aus dem Land der unbegrenzten Unannehmlichkeiten - die scheinen genauso drauf zu sein, obwohl sie dem Trotzalter längst entwachsen sein sollten. Denen will ich jetzt mal verraten, was „mehr als Alles“ ist: Genügsamkeit!

 

Dankbar zu sein für das, was man bekommt - und wenn es nur ein Zehntel dessen sein sollte, was man sich gewünscht hat, sich wie Bolle freuen, dass es nicht „Nichts“ ist - hätte ja schließlich auch passieren können - das ist mehr als Alles, viel mehr, und zwar für uns alle!

 

Nichts für ungut, Hilde - du hast es sicher gut gemeint! Aber was „gut gemeint“ ist… naja Schwamm drüber. Für Europa halte ich einiges aus, sogar schlecht gesungene schlechte Schlager.