Ob Stärke oder Schwäche - auf die Dosierung kommt es an

| Ulrich Dehner
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Die meisten Menschen kennen sich mehr oder weniger mit sich aus: Dieses uns jenes sind meine Stärken, und das und das sind meine Schwächen. Die Stärken sind gut und die Schwächen sind schlecht. Oder?

Ich halte diese strikte Zweiteilung nicht für hilfreich. Deshalb halte ich auch nichts von dem Ansatz, der fordert, dass man die Stärken stärken und die Schwächen möglichst tilgen sollte. Denn in meinen Augen verbergen sich auch in den Schwächen sehr nützliche Stärken, man muss sie nur finden und anerkennen. Und genauso kann eine Stärke zur Schwäche werden, wenn sie überproportional ins Gewicht fällt. So, wie jedes Heilmittel, wenn man es überdosiert, zu einem Gift werden kann und jedes Gift, in der richtigen Menge und zum richtigen Einsatz gebracht, eine Heilwirkung haben kann, so sind unsere Stärken und Schwächen Teil eines Ganzen - unserer Persönlichkeit - und müssen nur im richtigen Maß angewendet werden.

Wenn man diesen Blickwinkel einnimmt und damit genauer untersucht, welche Stärke eigentlich in einer vermeintlichen Schwäche steckt, kommt man zu manchmal überraschenden Ergebnissen. Nehmen wir zum Beispiel einen konfliktscheuen Menschen. So konfliktscheu zu sein, ist zweifellos eine Schwäche: Derjenige geht Konflikten aus dem Weg, er vermeidet Auseinandersetzungen, und erleidet dadurch so manchen Nachteil. Muss er nun mühsam daran arbeiten, die Schwäche „zu eliminieren“? Schauen wir uns diese Person näher an, finden wir einen Menschen, der einen sehr hohen Respekt vor anderen hat, der niemanden verletzen will und der Angst hat, dass genau das passieren könnte, wenn er nicht nachgibt oder schweigt, sondern sich durchsetzt. Die Stärke, die unter seiner Konfliktscheu verborgen liegt, ist genau jener Respekt vor anderen Menschen. Diese Stärke ist nur so überdosiert, dass sie sich als Schwäche auswirkt, weil derjenige nun im Konfliktfall gar nichts mehr sagt. Im Coaching würde ich jemandem deshalb sagen: „Genau aus jenem Grund, weil Sie soviel Respekt vor anderen und soviel Einfühlungsvermögen in andere besitzen, können Sie es sich leisten, in einem Konfliktfall deutlich zu sagen, was Sie wollen. Denn bei Ihnen bestünde gar nie die Gefahr, dass Sie über das Ziel hinausschießen und andere niederbügeln!“ Das heißt: Er muss keine Schwäche loswerden, sondern eine verborgene Stärke wieder ins rechte Maß rücken, so dass ein Gleichgewicht hergestellt wird zwischen Respekt vor anderen und Wahrung der eigenen Interessen.

Umgekehrt sieht es ganz ähnlich aus. Eine Führungskraft, die sehr dominant ist und berüchtigt dafür, immer „Klartext“ zu reden, wirkt auf andere häufig erschreckend. Diese Unfähigkeit zur Konzilianz ist eine „Schwäche“ - ganz klar, oder? Eine Stärke jedoch, die sich dahinter verbirgt, besteht darin, dass man bei diesem Menschen immer genau weiß, woran man ist, er redet nicht um den heißen Brei herum und hält mit nichts hinter dem Berg. Leider ist die Dosis dieser Stärke zu hoch und tendiert zu Härte. Weshalb ich ihm als Coach raten würde: „Gerade weil Sie diese Stärke besitzen, müssen Sie sich gar keine Sorgen machen, dass Sie, wenn Sie diplomatischer werden, an Klarheit verlieren! Durch mehr Diplomatie wird es nur leichter für Sie, mit anderen zu reden.“

Wenn man die Stärke in einer Schwäche erkennt, wird es oftmals viel leichter, das eigene Verhalten zu verändern, als wenn man glaubt, man müsste sich nun mühsam eine Schwäche abtrainieren. Eine vorhandene Stärke zu modifizieren - den Schieber, der die Intensität regelt, mehr zur Mitte hin zu verschieben - erfordert meist weniger Energie und geht schneller.

Es geht also eigentlich darum, die Stärke in einer Schwäche herauszufinden und wieder richtig zu dosieren. Das funktioniert mit allem, was man sich selbst als Schwäche erkannt hat. Probieren Sie es aus! Schreiben Sie doch einfach einmal auf, was Sie für Ihre Schwächen halten und überlegen dann unvoreingenommen, welche überdosierte Stärke darin stecken könnte.