Es ist der Horror

| Alice Dehner
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„In dem Wort, dem abgegriffenen, liegt, was mancher sinnend sucht“, selten hat ein Dichter, in diesem Fall Hugo von Hofmannsthal, treffender ausgedrückt, wie meine Befindlichkeit gerade ist. Zur gegenwärtigen Lage der Nation fallen mir nur Begriffe ein, die echt langsam abgenutzt sind. Sie wissen schon „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“ und so weiter, um einen weiteren Dichter zu zitieren, der sich vorsorglich nach Paris abgesetzt hatte, und dem wir viele wunderbare Geistesblitze verdanken. Er besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, selbst einem abgegriffenen Wort einen neuen Sinn abzugewinnen, der zugleich treffend und witzig war.

Das gelingt ja nicht jedem. Im Fußball zum Beispiel, bei den Spielern, den Trainern und den Kommentatoren hat sich ein Begriff breitgemacht, der mir immer ganz merkwürdig aufstößt. Offenbar gehört es inzwischen zum Anforderungsprofil für Spieler, auf die, wenn es auf sportliche Höchstleistung ankommt doch unentbehrliche, Nahrungsaufnahme zu verzichten. Ein Spieler, der etwas auf sich hält, geht heutzutage „hungrig“ auf den Platz. Selbst Jogi Löw, der mir immer als freundlicher Mensch erschien, freute sich unlängst im Fernsehen, dass seine jungen Spieler richtig hungrig seien. Oh Mann, Mann, Mann, habe ich da bei mir gedacht, da kannste es mal wieder sehen, die armen Teufel! Sie verdienen Millionen, aber was nützt es ihnen. Immerzu müssen sie Kohldampf schieben und dabei auch noch alles aus sich rausholen…

Oder habe ich da was missverstanden? Ist mir neulich schon mal passiert. Da sprang mir aus dem Feuilleton der SZ folgende Überschrift entgegen: „Der amerikanische Albclown“! Na, was hätten Sie denn gedacht, um wen es geht? Eben, ich auch! War es aber gar nicht. Es ging um die Neuverfilmung des, nun ja, Klassikers „Es“ von Stephen King. Ein Horrorfilm, der in Amerika alle Kinorekorde bricht. Wobei mir ehrlich gestanden überhaupt nicht klar ist, weshalb man freiwillig für Horrorfilme Geld bezahlt, wo es Facebook et alii doch ganz umsonst gibt. Oder ist das gar nicht umsonst? Außer, dass man mit seinen Daten bezahlt, meine ich.

Da kommt einem übrigens sofort ein weiteres abgegriffenes Wort in den Sinn, die Transparenz. Der Schrei nach Transparenz geistert nun schon seit Jahren durch die Gemeinde, aber die Einzigen, die immer transparenter werden, sind die Bürger, während die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, so beklagen es die Zeitungen, immer unübersichtlicher werden. „In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt“ hieß es da neulich gar.

Andererseits braucht man den Zeitungen auch nicht alles zu glauben, beileibe nicht. Vor einiger Zeit zum Beispiel, da gab der Südkurier vor zu wissen: „Die Waffen wollen einfach nicht schweigen!“ Stand da groß und breit in der Überschrift. Welcher Informant hat denen denn das gesteckt? Ich weiß nämlich aus zuverlässiger Quelle, dass die Waffen durchaus sehr gern schweigen würden. Einfach die (Lade-)Klappe halten zu dürfen, käme ihnen sehr entgegen. Sie würden sich sehr, sehr gern ganz still und stumm in die Depots zurückziehen - das ist für die Waffen, was für uns Damen ein Aufenthalt im Spa ist. Eine befreundete Maschinenpistole hat mir erst unlängst versichert, wie entspannend das Liegen im Depot ist - kein Dreck, kein Blut, kein Stress mehr mit diesen ballernden Machos und so. Sie würden nur zu gern schweigen, man lässt sie nur nicht.

Ich will das hier mal ganz deutlich festhalten: Es sind nicht die Waffen als solche, die das Problem sind. Das Problem liegt ganz woanders. Aber dieses Verschieben von Verantwortlichkeiten kennt man ja auch aus anderen Zusammenhängen. Unlängst habe ich schon mal darauf hingewiesen, wie ungerecht es ist, den Touristen anzuhängen, dass die Mieten in beliebten Städten ins Unermessliche steigen. Statt die Schuldigen da zu suchen, wo sie tatsächlich sind, in den Immobilien-Eigentümerverzeichnissen, sucht man sich lieber einen kommoden Sündenbock.

Der ist übrigens ganz oft „Es“ - da wären wir wieder beim oben schon erwähnten Horrorfilm und jetzt versteh ich ja auch langsam, weshalb „Es“ echt ein Horror ist. „Es“ ist zum Beispiel an unglaublich vielen gescheiterten Beziehungen schuld. Hätten Sie nicht gedacht? Aber das kennen Sie doch bestimmt: „Es hat einfach nicht geklappt mit uns!“ „Wir haben unser bestes gegeben, aber „es“ ist immer wieder schiefgegangen!“ Tja, da kann man echt nichts machen, wenn „es“ nicht will, dann will „es“ nicht. Und ich will jetzt auch nicht weiter nach abgegriffenen Worten suchen, um ihnen irgendeinen Sinn einzuhauchen, sondern mache, was die Waffen nicht wollen oder nicht dürfen, oder was weiß denn ich…