Introvision im Privatleben

| Alice Dehner
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In diesem Fall, der im Buch „Introvision – Die Kunst ohne Stress zu leben“ (Ulrich u. Renate Dehner, Kreuz-Verlag 2015) dargestellt wird, geht es um eine sehr schwierige Beziehung. Der theoretische Hintergrund der Auflösung des Falles wird im Buch selbstverständlich ausführlich dargestellt.

Die Klientin liebte ihren Mann wirklich und hatte im Laufe ihrer Beziehung mit ihm viele sehr schöne Momente erlebt, sodass sie sich auch keineswegs von ihm trennen wollte. Doch gab es auch eine Kehrseite in dieser Beziehung. Die Klientin litt sehr unter den Abwertungen ihres Partners, zu denen es viel zu häufig kam. Wenn er sich selbst abgewertet fühlte, aus welchem Grund auch immer, wusste er sich nicht anders zu helfen, als seine Partnerin wüst zu beschimpfen. Sie fand diese verletzenden Szenen kaum auszuhalten, hing aber andererseits viel zu sehr an ihrem Mann, als dass sie die Ehe hätte beenden wollen.

Um zu lernen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, hatte sie sich mehreren Therapien unterzogen, die jedoch insofern erfolglos blieben, als sich am Grundmuster ihrer Konflikte mit ihrem Mann nichts änderte. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar einen Schamanen aufgesucht, in der Hoffnung durch die Arbeit mit ihm ihr Problem zu lösen.

Bei der Klientin kam noch die Schwierigkeit hinzu, dass sie es an ihrem Arbeitsplatz jedem Recht machen wollte, weshalb sie immer mit großer Anspannung bei der Arbeit war. Durch den Stress, den der Arbeitstag ihr verursachte, stieg gleichzeitig auch die Gefahr, dass sie abends mit ihrem Mann aneinander geriet. Dabei wiederholte sich regelmäßig folgendes Szenario: Wenn sie erschöpft nach Hause kam und deshalb nicht in der Weise positiv auf ihren Mann reagieren konnte, wie er es erwartete, hatte er den Eindruck, nicht wahrgenommen und nicht wertgeschätzt zu werden. Darauf reagierte er abwertend und aggressiv, was sie veranlasste, eine Verteidigungshaltung einzunehmen und sich zu rechtfertigen, mit dem Erfolg, dass seine Angriffe immer heftiger wurden.

Das Ende vom Lied war immer, dass sie in Tränen aufgelöst davon überzeugt war, eigentlich gar nicht liebenswert zu sein. Da half auch das „positive Denken“ nicht, zu dem sie gelegentlich ihre Zuflucht nahm. Das funktionierte zwar ein bisschen in den Momenten, in denen sie sich gebetsmühlenartig wiederholte „Ich bin liebenswert, ich bin jemand, den man mögen kann“, aber nie dann, wenn sie es gebraucht hätte. Sobald sie sich mit ihrem Mann in der Auseinandersetzung befand, bekam ihr eigentlicher Glaubenssatz, dass sie nämlich nicht liebenswert sei, wieder die Oberhand. Aus diesem Grund grenzte sie sich auch nicht energisch gegen ihren Mann ab, sondern ließ jedes Gewitter über sich ergehen.

Alle ihre Versuche, dieses sich wöchentlich mehrmals drehende Karussell zu unterbrechen, waren bisher misslungen. Sie nahm sich hunderte Male vor, ruhig zu bleiben, nicht auf seine Beschimpfungen zu reagieren, und landete doch immer wieder in der Verteidigungsposition und damit im Streit. Sie führte sich alle Erkenntnisse aus den Therapien, die sie gemacht hatte, vor Augen, sie war sich im Klaren darüber, was ihre heutige Situation mit ihrer Kindheit, mit dem Verhalten ihrer Eltern zu tun hatte – hatte aber trotz des guten Verständnisses für diese Zusammenhänge keine Möglichkeit gefunden, ihr eigentliches Problem zu lösen. Auch das Verständnis für die tragische Verstrickung, in der sie sich mit ihrem Mann befand – ihr Verhaltensmuster, um sich zu schützen, empfindet er als Bedrohung, sein Verhaltensmuster, um sich zu schützen, stellt für sie eine Bedrohung dar – hatte sie nicht weitergebracht. In lichten Momenten dachte sie dann zwar positiver über die Beziehung, den destruktiven Kreislauf stoppen konnte sie damit aber nicht.

Als sie auf Empfehlung einer Freundin ins Coaching kam, war sie einigermaßen verzweifelt, weil sie den Eindruck hatte, dass es keinen Ausweg aus ihrer Lage gab: Sie wollte so nicht weitermachen, weil sie von Jahr zu Jahr unglücklicher geworden war, sich trennen, wie Freunde und Familie ihr rieten, wollte sie aber auch nicht. Außerdem hatte sie in früheren Beziehungen die Erfahrung gemacht, dass es ihr da auch nicht besser gegangen war. Es schien ihr Schicksal zu sein, immer wieder an Männer zu geraten, die ihr das Leben schwer machten.

Im Coaching kam folgendes zutage: Franziska Eberhard war unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen mit einer behinderten Mutter und einem alkoholkranken Vater. Sie hatte sich von klein auf um ihre Mutter gekümmert, dafür aber kein Lob geerntet, sondern war im Gegenteil besonders vom Vater permanent beschimpft und abgelehnt worden, worunter sie sehr gelitten hatte. Da man als Kind auf die Anerkennung durch die Eltern angewiesen ist, tat sie alles dafür, um doch noch wenigstens ein kleines Bisschen der positiven Zuwendung zu bekommen, die sie sich so dringend wünschte. Aber obwohl sie bis zur Selbstverleugnung es den Eltern Recht machen wollte, erlebte sie massive Zurückweisungen. Der Imperativ, der sich auf Grund dieser Erfahrungen bei ihr entwickelte, lautete: „Es darf auf keinen Fall passieren, dass ich abgelehnt werde.“

Die Skript-Einschärfung, die sie vor allen Dingen von ihrem Vater mitbekommen hatte, war „Sei nicht wichtig“, denn ihre Bedürfnisse und Wünsche interessierten ihn in keiner Weise, und die Überzeugung, die sich bei ihr infolgedessen etablierte, war „Ich bin eigentlich nicht liebenswert, und ich muss mir Liebe verdienen, indem ich es allen Recht mache“. Ihr ganzes Leben war bestimmt von der Angst vor Ablehnung. Im Coaching löste der Satz „Es kann sein, dass ich abgelehnt werde“, eine so heftige körperliche Reaktion aus, dass Franziska Eberhard sich längere Zeit ausschließlich auf ihre Atmung fokussieren musste, während sie an den Satz dachte, bevor sie so weit war, ihre konstatierende, nicht wertende Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in ihrem Innern zu richten.

Beim Betrachten der inneren Reaktionen auf den Satz „Es kann sein, dass ich abgelehnt werde“ wurde ihr schnell deutlich, dass sie nicht nur ihr Privatleben nach ihrem Skript gerichtet hat, sondern dass sie auch im Berufsleben alles dafür getan hat, um nur ja nicht abgelehnt zu werden. Sie hatte sich niemals getraut, klare Grenzen zu ziehen, oder gar einmal jemanden in seine Schranken zu weisen, schon gar nicht ihren Chef, der das weidlich auszunutzen wusste. Aus diesem Grund hatte sie sich auch niemals wirklich mit ihrem Partner auseinandergesetzt, weil er jedes klare oder kritische Wort von ihr als Angriff auf seine Person wertete, dadurch selbst in innere Not geriet, aus der heraus er seine zynischen und verletzenden Bemerkungen machte, die bei ihr die höchste Alarmstufe auslösten und den Kreislauf aus Angst vor Ablehnung und es nur ja allen Recht machen in Gang setzten.

Der zweite Imperativ, mit dem sie danach arbeitete, war ebenfalls aus ihrem Skript erwachsen: „Es darf auf gar keinen Fall passieren, dass ich allein gelassen werde!“ Das war genau das, was sie als Kind immer wieder erlebt hatte, dass sie sich vollkommen allein gelassen fühlte, weil sie niemals die Erfahrung des Angenommenseins gemacht hatte. Der Satz „Es kann sein, dass ich alleingelassen werde“ löste deshalb beim ersten Set zunächst heftige Gefühle von Verzweiflung, Trauer und Panik aus. Doch schon bei den nächsten beiden Sets gelang es ihr, den Alarm beträchtlich zu reduzieren. Sie übte auch zu Hause weiter, bis sie die Belastung durch die Imperative auf Null reduziert hatte.

In der Folge konnte sie anders mit ihrem Mann kommunizieren, weil sie es nicht mehr nötig hatte, eine Verteidigungshaltung einzunehmen, wenn er sie verbal angriff. Sie schaffte es, seine „Angriffe“ ins Leere laufen zu lassen, was dazu führte, dass auch er seinerseits anders auf sie reagierte. So konnten sie peu á peu eine andere Gesprächskultur etablieren, ohne dass sie ihre frühere überangepasste Haltung einnahm. Ihre neue Sicherheit hatte auch Auswirkungen auf ihr Berufsleben. Vorher hatte sie aus Angst vor Ablehnung manches Mal die halbe Nacht durchgearbeitet, weil sie es jedem Recht machen wollte. Damit war für sie nun Schluss. Sie grenzte sich gegen Kollegen und auch gegen ihren Chef ab, wenn es nötig war. Das war für die anderen zwar zunächst eine Umstellung, erhöhte aber ihren Respekt. Zu Franziska Eberhards eigenem Erstaunen erfuhr sie plötzlich mehr Anerkennung und Wertschätzung als vorher.