Persönliches Wachstum geht nicht in die Höhe und nicht in die Breite

| Alice Dehner

„Die Kraft der Gedanken“. Dieser - in meinen Augen irreführende - Titel des Zeit-Magazins Nr. 22 vom 19. Mai, veranlasste mich, noch einmal etwas zu persönlichem Wachstum zu schreiben, wie schon im vorigen Newsletter. Zitat „Zeit“: „Erfolg und Gesundheit, ja sogar Herzschlag und Gewicht hängen vom Selbstverständnis ab. Was Menschen zu sein glauben, das werden sie auch. Im Guten wie im Schlechten.“

In diesem sehr interessanten Beitrag des Zeit-Magazins wurden verschiedene Wissenschaftler und ihre Studien vorgestellt - Wissenschaftler, die sich zum Teil schon seit Jahrzehnten mit dem Einfluss des Geistes auf unsere körperliche und seelische Verfassung befassen. So zum Beispiel jenes bemerkenswerte Experiment der amerikanischen Harvard-Professorin Ellen Langner. Sie hat eine Gruppe von etwa Achtzigjährigen in eine Umgebung versetzt, in der ihnen vorgegaukelt wurde, es sei zwanzig Jahre früher. Und siehe da, nach nur sieben Tagen, waren die Probanden sichtlich verjüngt: Sie waren beweglicher, konnten alles mögliche wieder und schnitten in Intelligenz-, Seh- und Hörtests besser ab als Gleichaltrige ohne diese Erfahrung. Der Zeit-Autor schließt daraus „Wie unsere Gedanken unser Leben verändern können“.

Ich finde den Titel „Die Kraft der Gedanken“ deshalb irreführend, weil es nun gerade NICHT die bewussten Gedanken sind, die den größten Einfluss darauf ausüben, wie wir uns fühlen, wie wir uns entwickeln und wie wir körperlich reagieren. Hätten die Achtzigjährigen GEWUSST, worauf dieses Experiment hinauslaufen soll - wäre dann genauso viel passiert? Ich bin überzeugt davon, dass das nicht der Fall ist!

Wenn es den bewussten Gedanken gelänge, so wirksam zu sein wie unsere unbewusste Glaubenssätze, hätte das sogenannte „Positive Denken“ schon längst jedes unserer Probleme gelöst. Das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil, manchmal schafft das „positive Denken“ noch Probleme, statt sie zu beheben. „Positives Denken“ geht im besten Fall ins Leere, wenn nicht auf einer anderen Ebene etwas passiert.

Dass nicht die „Kraft unserer Gedanken“ etwas bewirkt, belegt in meinen Augen eindeutig der Placebo-Effekt. Ein Placebo wirkt nämlich nur so lange, als man nicht WEISS, dass es ein Placebo ist, das man schluckt. Sobald man es weiß - also bewusste Gedanken ins Spiel kommen - ist die Wirkung futsch!

Nun bin ich aber auch überzeugt, dass die Kraft unseres Geistes immens ist, das belegt ebenfalls der Placebo-Effekt! Nur sind es nicht unsere Gedanken, die dafür in erster Linie verantwortlich sind, sondern es ist eine vorgedankliche oder übergedankliche Instanz, die wir besitzen. Jene Instanz, die nicht infrage stellt, dass wir ein wirksames Medikament schlucken. Nennen wir es „mind“ oder „Geist“, das alles trifft es nicht ganz genau. Ich habe leider keinen besseren Begriff dafür. Man könnte es auch „unbewusste Glaubenssätze“ nennen. Meinungen, Urteile, innere Haltungen, die wir uns zu eigen gemacht haben, und die uns manchmal verdammt einschränken, weil sie uns daran hindern, etwas zu können, was wir eigentlich könnten…Wenn, ja wenn wir nicht - fast immer ohne uns bewusst Rechnung darüber abzulegen - davon überzeugt wären, dass wir es nicht können. Noch ein Zitat aus dem Zeit-Magazin: „ ‚Mindless automata‘ nennt Professor Langner jene Überzeugungen, die unser Leben steuern, ohne dass wir es bemerken - als seien wir darauf programmiert, fremde Gedanken ungeprüft zu übernehmen.“

Manchmal genügt ja sogar schon ein gesellschaftlicher Konsens, dass etwas so oder so ist, und die Menschen verlieren plötzlich Fähigkeiten, die sie eigentlich besitzen. Mädchen sind gut im Lesen und im Textverständnis, Jungens können das nicht so gut. Stimmt genau - aber nur so lange die Jungen auch glauben, dass es so ist. Mädchen können dafür nicht so gut in Mathe mithalten - ja, aber nur, solange man sie in diesem Korsett einschnürt. Es gibt neue Untersuchungen, die belegen, dass Jungen genauso gut das Lesen beherrschen wie Mädchen und Mädchen genauso gut in Mathe sind wie Jungen, wenn man eine Umgebung bereitstellt, die diese geschlechtsspezifischen Vorurteile neutralisiert.

Wir übernehmen von Kindesbeinen an Zuschreibungen von unserer Umgebung, wir bilden uns eigene Theorien über uns, kommen zu Überzeugungen hinsichtlich unseres Charakters und das meiste davon könnten wir nicht einmal in Worte fassen, weil es uns so selbstverständlich ist, dass wir keinen bewussten Zugang dazu haben, wir brauchen ihn ja nicht: Es ist halt so! Und das wirkt! Manchmal zu unseren Gunsten, dann ist es prima. Ich weiß einfach, dass ich gut mit Fremdsprachen bin, ich lerne die wie nebenher, ist halt meine Begabung!

Aber wo überall schränken mich meine vorgedanklichen, vorbewussten Haltungen, Glaubenssätze, Gewissheiten ein? Das ist dann nicht so prima! Im Grunde genommen denke ich vielleicht, für mich interessiert sich kein Schwein. In meiner Familie waren vielleicht immer alle anderen wichtiger als ich. Das hat sich irgendwo in meinem Hirn festgesetzt, hatte ja auch lange genug Zeit dazu. Ich habe das nie bewusst als innere Haltung erkannt, aber sie ist da. Dann verhalte ich mich auch so. Mit minimalen Strategien, die ich niemals benennen könnte, schaffe ich es, dass ich die graue Maus bleibe. Ist halt so - ich bin nun mal nicht der Typ „Star“. Es gibt Menschen, die sagen mir, dass ich doch toll bin, dieses oder jenes kann, das freut mich zu hören - aber die nehme ich nicht wirklich ernst. Bin halt klein und unbedeutend… Doch ich kann wachsen! Jeder von uns kann wachsen, jederzeit, in jedem Alter. Ein Weg dazu ist, all meinen inneren Anteilen den Raum geben, sich zu entwickeln, auch denen, mit denen ich mich überhaupt nicht befassen will, den traurigen, ängstlichen, wütenden, unangenehmen. Die, die mich daran erinnern, wie ich mich damals gefühlt habe, als mein Vater mich wie Luft behandelt hat. Wenn ich die annehme, dann haben sie die Chance sich zu verändern. Sie brauchen mich nicht mehr zu bremsen. Und dann verändere ich mich - auf allen Ebenen - mental, emotional, körperlich. Es setzt persönliches Wachstum ein, das macht mich nicht länger und (zum Glück) auch nicht breiter, aber es macht mich größer und weiter.

Mit der Veränderung, die eintritt, setzen auch andere Gedanken ein - aber diese bewussten Gedanken kommen erst NACH der Veränderung - sie bewirken die Veränderung nicht. Ich kann mir noch so lange vorbeten „Ich bin ein stolzer Schwan“: So lange ich mich im Inneren für eine lahme Ente halte, werde ich auch wie eine lahme Ente durchs Leben watscheln. Und das ist es, was in meinen Augen nicht stimmt mit einer Überschrift wie „Die Kraft der Gedanken“. Es ist unser Geist, jene viel größere Instanz, die wir noch nicht einmal annähernd begriffen haben, die die wirkliche Kraft besitzt. Doch es gibt Wege, dieser Kraft näher zu kommen, sie ein Stückchen mehr zu befreien von automatisch übernommenen Einschränkungen.