Persönlichkeitsentwicklung

| Alice Dehner
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Das Bewusstmachen von Hintergründen ist nur der erste Schritt hin zu einer echten Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, aber es ist noch nicht die Lösung. Auch wenn man seine Vergangenheit gründlich analysiert und sich darüber im Klaren wird, welche Probleme von welchen Triggern ausgelöst werden, ist das doch noch längst nicht ausreichend, um sich von den Alarmen, die mit den Triggern einhergehen, zu befreien.

Damit das passieren kann, muss der innere Kind-Anteil versorgt werden, der steckengeblieben ist in einer für das Kind nicht zu bewältigenden Gefühlslage. Es hat sich damals beholfen mit Verhaltensweisen, die für ein Kind adäquat sind oder die ihm die einzig mögliche Strategie war, um mit der Situation umzugehen. Als Erwachsener solche Verhaltensmuster immer noch zu zeigen, führt jedoch zu neuen Problemen, weshalb es nötig ist, das „innere Kind“ zu beruhigen. Erst dann kann es zu einer „Nachreifung“ kommen. Wenn das bedürftige innere Kind endlich erhält, was es braucht, kann es wachsen. Das kann zu sehr schnellen und verblüffenden Ergebnissen führen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Einem Handwerksmeister, der in einer großen Firma arbeitet, wurde von der Personalabteilung ein Coaching nahegelegt. Er war sehr erfahren und kompetent in seiner Arbeit, aber außerordentlich schwierig im Umgang, und da er dabei sehr viel Power besaß, war er sowohl bei Kollegen als auch bei Vorgesetzten gefürchtet. Zunächst völlig gegen das Coaching eingestellt, ließ er sich doch darauf ein, und als in der Problemanalyse die Sprache darauf kam, wie er zu dem geworden war, der er war, saß dieser „harte Hund“ plötzlich da und weinte. Er erinnerte sich an seine lieblose Kindheit, und erst als dieser sehr verletzte Kind-Anteil, der da nach oben gekommen war, gut versorgt worden war, konnte er sich weiterentwickeln. In seinem Fall bedeutete das, ruhiger, gelassener und offener zu werden und auch andere Meinungen als die seine geduldig anzuhören.

Aber was genau heißt eigentlich „gut versorgt werden“? Was braucht ein Kind, wenn es einsam ist, sich fürchtet oder traurig ist? Eigentlich nur jemanden, der es in den Arm nimmt! Jedenfalls nicht, dass man es wegscheucht und ihm zu verstehen gibt, dass es unerwünscht ist! Versorgt werden bedeutet in diesem Zusammenhang also lediglich, sich auf die Gefühle einlassen, sie zuzulassen, auch wenn sie schmerzhaft sind. So nimmt das eigene innere Erwachsenen-Ich das innere Kind-Ich „in den Arm“. Es lässt diesen Kind-Anteil einmal bedingungslos da sein.

Genau das ist der Schritt, den man im Introvision-Coaching macht. Man ruft diesen verletzten Kind-Anteil auf, stellt sich ihm und gibt ihm den Raum, den er benötigt. Dabei wird zwar auch der damit verknüpfte innere Alarm ausgelöst, aber durch das reine Beobachten, ohne einzugreifen, ohne ihn weghaben zu wollen, wird der Alarm schwächer und schwächer. Ein unglückliches, verängstigtes oder trauriges Kind würde kein liebevoller, vernünftiger Mensch einfach wegschicken. Genau das tun wir aber als Erwachsene mit den Kind-Anteilen, die wir nicht mögen, weil sie so unangenehm sind. Dadurch, dass man dem Kind-Anteil den Raum gibt, den er braucht, wird er integriert in die Persönlichkeit des Erwachsenen und dann geht es auf einmal sehr schnell, dass das Verhalten sich ändern kann. Wenn der Kind-Anteil endlich gewürdigt wird, kann und wird er sich entwickeln. So kommt es, dass Klienten, wie es auch im Falle des Handwerksmeisters war, die Rückmeldung von außen bekommen, sie seien ja wie ausgewechselt.

Was bedeutet das für Führungskräfte?

Was hat das „Psycho-Gedöns“, für das der eine oder andere Persönlichkeitsentwicklung halten mag, mit besserer Führung zu tun? Ganz einfach: Wer weniger Stress erlebt, der führt besser, er ist offener, trifft bessere Entscheidungen, stellt bessere Beziehungen zu den Mitarbeitern her und ist produktiver. Deshalb ist es für Führungskräfte mehr als lohnend, einmal genau hinzuschauen, in welchen Situationen sie gestresst reagieren. Also nicht einfach nur Stress haben, weil sie zu viel gearbeitet haben, sondern wo es vielleicht Muster gibt, Situationen, die sich wiederholen, in denen sie gestresst, angespannt, inadäquat reagieren.

Zunächst kann man das mit Transaktionsanalyse analysieren: Was hat das mit ihrem Skript, ihrer Lebensgeschichte zu tun? Dadurch kommen sie in Kontakt mit dem kindlichen Anteil. Das führt meist zu einer emotionalen Betroffenheit, die auch ziemlich intensiv sein kann. Doch Kontakt und Betroffenheit allein reichen nicht aus: Man muss auch zu einer Auflösung dieses emotionalen Knotens finden. Dazu braucht man den inneren Erwachsenen, der präsent ist für den Kind-Teil und bereit ist, diesen Persönlichkeitsanteil anzunehmen mit allen seinen Gefühlen. Tut man das nicht, heißt das nämlich, dass man diesen Teil, dieses innere Kind, ablehnt, was nichts anderes bedeutet, als dass man sich selbst ablehnt mit all seinen Gefühlen.

Solange man also solche Persönlichkeitsanteile nicht voll und ganz akzeptiert, kann welcher Guru auch immer noch so lange fordern „Du musst dich selbst mehr lieben“ - das „selbst“ lässt sich nicht teilen. Zu versuchen, sich selbst zu lieben, bloß nicht diesen häßlichen, jammerigen, traurigen Gnom, den man versucht abzuspalten, das funktioniert nicht, denn er kommt immer wieder zum Vorschein und verlangt sein Recht.

All die Versuche mit äußeren Mitteln, sich für sich selbst „akzeptabel“ zu machen, ohne den ungeliebten Kind-Anteil zu integrieren, bringen keine wirkliche Lösung: Manche versuchen es über berufliche Erfolge und erklimmen Stufe nach Stufe der Karriereleiter, andere müssen einen Haufen Geld verdienen, wieder andere häufen Status-Symbole an oder machen eine sexuelle Eroberung nach der anderen. Manchmal erwartet man auch vom Partner die andauernde Bestätigung, die man sich selbst nicht geben kann.

Die Lösung kann erst kommen, wenn man, ohne zu bewerten, ohne davonzulaufen, ohne verändern zu wollen, einfach da ist und diesen Kind-Anteil ebenfalls da sein lässt. Dann wird sich dieser Anteil beruhigen, denn er fühlt sich angenommen. Im Introvision-Coaching wird damit auch gleichzeitig der Alarm aufgelöst, denn das Gefühl der Bedrohung, der man begegnen muss, fällt weg, sobald man die Erfahrung gemacht hat, dass man jetzt als Erwachsener durchaus fähig ist, der vermeintlichen „Gefahr“ zu begegnen. Ohne den Alarm bleiben auch all die inneren Stressreaktionen aus und statt dass unkontrollierbare Emotionen das Verhalten bestimmen, kann man seine Handlungsweisen selbst und angemessen wählen.