Die hochsensible Schwarzwälder Kirschtorte

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Wie schneiden Sie eine Torte, in Stücke oder in Scheiben? Genau, erst in Scheiben, sofern Sie der Konditor sind und das Gesamtkunstwerk in allen Schichten gestalten. Danach in Stücke, damit jeder von allem was bekommt. Braunen Kuchen, weiße Sahne und rote Kirschen.

Wechseln wir aus der Konditorei in die Persönlichkeitsforschung. Auch dort ist man eifrig bestrebt, die verschiedenen Ebenen, Schichten, Scheiben voneinander zu trennen, die eine Persönlichkeit ausmachen. Dort nennt man sie Faktoren und sie bestehen nicht aus Mehl und Zucker sondern aus Eigenschaften und Verhaltensvorlieben. Besonders populär, gewissermaßen das Spitzenprodukt der Persönlichkeits-Konditorei, ist das Fünf-Faktoren- Modell "Big Five" mit den Leckereien Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus. Mit dem Grad der Ausprägung dieser Eigenschaften lässt sich ein individueller Charakter bestmöglich beschreiben, sagen diejenigen, die sich in tausenden von Studien damit beschäftigt haben. Jeder Mensch hat demnach sein ganz eigenes Kuchenstück, das sich hinsichtlich der Schichtdicke einzelner Lagen von anderen unterscheidet.

Am Ende des letzten Jahrhunderts präsentierte eine Psychologie-Professorin aus den USA eine bis dahin so nicht bekannte oder benannte "Zutat", die sie "Sensory Processing Sensitivity" nannte. Verständlicherweise löste sie damit nur mäßig begeisterte Resonanz in Wissenschaftskreisen aus, wo man lieber aus den 5 Faktoren 4 machen würde, als der Torte eine weitere Schicht hinzuzufügen.

 

Seither plätschert die Forschung zur SPS vor sich hin und entlockt vielen Etablierten eher ein müdes Lächeln als wissenschaftliche Neugier. Dafür gibt es aus einer ganz anderen Richtung aufmerksame Beobachter und Befürworter, die für zunehmende Bekanntheit des Phänomens sorgen und es mehr und mehr aus dem Schattendasein der wissenschaftlichen Bedeutungslosigkeit heben und in die öffentliche Diskussion bringen.

 

Unter dem sperrigen Ausdruck "Hochsensibilität" hat es Einzug in den deutschsprachigen Raum gehalten und findet immer mehr Fans. Wie kann es sein, dass plötzlich die Brigitte, Men´s Health, Psychologie heute, Schrot&Korn und vielfältige andere Blätter über ein Phänomen berichten, das die Wissenschaft so stiefmütterlich behandelt? Dort scheint man eher bestrebt, die Zutaten stabil zu halten und vor "Verunreinigungen" mit fremden Früchten schützen zu wollen.

 

Des Rätsels Lösung liegt in der Wirkung, die es auf die Betroffenen selbst hat. Wer diese seltsame Beimischung in sich trägt, erfährt durch das Konstrukt der Hochsensibilität ein Aha-Erlebnis, das den Berichten zufolge galaktische Ausmaße annehmen kann. Vieles was in der eigenen Biographie bisher unerklärlich und rätselhaft war, einen fremd und andersartig erscheinen ließ, Rätsel aufgab, Anlass zur Selbstkritik gab, nicht selten als Krankheit postuliert wurde, löst sich in dieser Eigenschaft auf wie eine komplexe Gleichung, deren Ergebnis schlicht 42 ist.

 

Hochsensible Menschen sind einfach gesagt Vielfühler und Vieldenker mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen, die sich daraus ergeben. Sie erleben ihre Umwelt "mit Verstärker" und verarbeiteten diese Eindrücke sehr gründlich. Ihre Gedankengänge sind vielschichtig (da war sie wieder, die Torte) und ihre Gefühlswelt leicht berührbar mit intensivem Nachklang. Das schenkt ihnen Wahrnehmung und Empfindungen, die andere so nicht haben. Da sich diese Eigenschaft, wie jede andere, nicht per Regler dosieren lässt, kann es jedoch auch leicht "zu viel" werden.

 

Um ein letztes Mal in die Konditorei zurückzukehren ... manche Menschen scheinen in ihrer Persönlichkeitstorte eine ganz besondere Zutat zu haben, die mengenmäßig zunächst nicht auffällt und dennoch den Geschmack ganz eigen und charakteristisch macht. Vergleichbar dem Kirschwasser in der Schwarzwälder: 3 Esslöffel auf 1800 g sonstige Zutaten und dennoch wäre sie nicht dieselbe, wenn man auf die geistvollen Tropfen verzichten würde.

 

Über die Solidarität mit anderen ("Du schmeckst auch nach Kirschwasser?") entdeckten die Hochsensiblen ihre Stärke. Wer die Torte zu diesem Zweck einmal waagrecht statt senkrecht aufschneidet und die Schicht isoliert verkostet, stellt fest, dass 3 Esslöffel Kirschwasser ganz schön markant schmecken können, zumal sie zusätzlich in andere Schichten hineinsickern. Dieser Anteil oder dieser Faktor ist prägend für das eigene Erleben der Wirklichkeit und die Außenwirkung der Betroffenen, auch wenn die sonstigen Dimensionen, die Sahne, der Zucker, die Kirschen, die Big Five, eine große Menge der Varianz der Persönlichkeit erklären.

 

Woraus genau besteht nun das besondere Wässerchen? Die Fortsetzung folgt ... in der Tauchschule.