Renates Kolumne: Einschränkungen

| Renate Dehner
Sie sehen sich in mir einer vollkommen tiefengereinigten Person gegenüber. Also reiner, im Sinne von sündenfrei, kann auch die Jungfrau Maria in jenem März vor unserer Zeitrechnung nicht gewesen sein. Sie erinnern sich, Josef war noch auf Arbeit und Maria hatte es sich gerade mit einem Buch gemütlich gemacht, als dieser komische Vogel in seinem Hippie-Outfit ganz unangemeldet bei ihr zum Five-o’clock-Tea erschien, noch dazu seine blöde Taube mitbrachte, was Maria unhygienisch fand, und ihr ein Angebot machte, dass sie nicht ablehnen konnte. Das war zumindest die Story, die Maria später dem Scheidungsanwalt auftischte, der Josef schließlich dazu riet, es doch nochmal mit Maria zu versuchen – um Unterhaltszahlungen käme er womöglich sowieso nicht herum, denn man wisse nie, wie Gerichte entschieden.
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Aber genug der Umschweife, Sie fragen sich wahrscheinlich, was aus meinen Sünden geworden ist. Die habe ich alle abgebüßt – und zwar in einer einzigen Nacht. Es waren ja auch nicht so viele, in meinem Alter, ach du lieber Gott, schön wär’s ja, aber was soll man da noch groß sündigen können? Bisschen Bosheit, bisschen Neid, bisschen Faulheit, das war’s auch schon, glaube ich. Dafür war die Nacht nach der Impfung allerdings echt lang, das kann ich Ihnen sagen! Ich habe an Wirkungen außer Hirnvenen-Thrombose und Fußpilz alles mitgenommen, was ging. Noch selten in meinem Leben habe ich mich so krank gefühlt.

Aber nun habe ich hoffentlich das Schlimmste überstanden und darf mich auf das nahende Ende der Einschränkungen freuen. Also jener Einschränkungen, die uns die Pandemie aufzwingt. Es gibt ja noch viel mehr Einschränkungen im Leben, gegen die man auch nicht viel ausrichten kann – es sei denn, man würde sich entleiben. Ich picke jetzt nur mal eine heraus, Ihnen fallen wahrscheinlich von allein noch ein paar mehr ein.

Viele Menschen sind nicht glücklich mit ihrem Körper. Da ist zu viel und dort zu wenig, dieses könnte ganz verschwinden und jenes könnte ausgeprägter sein - irgendwas zu meckern findet sich bei fast jedem. Die einen beklagen in zahllosen Zeitungsartikeln den Schlankheitswahn, die anderen schauen sich auf der Straße um und kapieren nicht so recht, wovon da eigentlich die Rede ist. Dick sein wird mal verpönt, mal schöngeredet und zum Trost für all die Rundlichen schildert hin und wieder eine Bohnenstange ihren aussichtslosen und verzweifelten Kampf, ein paar Pfund zuzulegen.

All diese Dinge gehen am Hauptproblem vorbei! Was mich an meinem Körper am allermeisten stört, ist der Zwang, überhaupt Nahrung zu sich nehmen zu müssen, ganz egal, wie die sich auf die Figur auswirkt. Das ist so dermaßen lästig, alle paar Stunden kriegt man Hunger, ich mag das nicht, es schränkt mich ein, es inkommodiert mich. Das hat nicht nur damit zu tun, das Essen keine Tätigkeit ist, die mir per se Freude bereitet. Es gibt ja Leute, die essen richtig gern, die genießen sozusagen jeden Bissen, zu denen gehöre ich definitiv nicht. Essen ist eine Notwendigkeit, die ich meistens am liebsten möglichst schnell hinter mich bringe.

Die Einschränkungen, die der Zwang zur Nahrungsaufnahme mit sich bringt, empfinde ich schon lange als ein Ärgernis. So richtig aufgefallen ist es mir, glaube ich, als die Kinder noch klein waren. Man macht im Urlaub einen Ausflug mit ihnen, zum Beispiel, um sich eine schöne Stadt anzuschauen. Man lässt sich auch durch das Gemaule, nun müsse man wieder stundenlang Fassaden anglotzen, die Vorfreude nicht nehmen. Man steigt also am Zielort angekommen freudig erregt aus dem Auto, bewundert die herrlichen alten Häuser und hat noch kaum eine halbe Straße hinter sich gebracht, da hat die Nachkommenschaft Hunger. Und wenn die Nachkommenschaft Hunger hat, dann gibt sie kein Pardon, dann muss Nahrung her, und zwar schnell und reichlich.

Es hat mich oft so erbittert: Man weiß genau, dass man gar nicht so schrecklich viel Zeit für die wunderschöne Stadt hat, denn in der Ferienwohnung wartet der Hund, den kann man nicht so lange dort allein lassen, denn auch der kriegt gegen Abend Hunger, dann bellt er womöglich, weshalb man rechtzeitig wieder da sein muss, um keinen Ärger zu bekommen, aber statt in der knappen Zeit schlendernd bezaubert zu sein, wie vergangene Jahrhunderte noch prächtig bauen konnten, sitzt man in irgendeinem blöden Restaurant und stopft die unersättlichen Mäuler seiner Lieben. Ihnen ein doppeltes Frühstück aufzutischen hat leider niemals geholfen.

Vor ein paar Jahren geisterten Berichte durch die Zeitung von Menschen, die angeblich von Licht und Luft leben - da die Zeitungen sehr gern voneinander abschreiben, erschienen diese Artikel sogar in mehreren Presse-Erzeugnissen, was sie aber nicht wahrer machte. Man liest nichts mehr von diesen Leuten, ich nehme an, sie sind mit ihrer Methode nicht sehr alt geworden. Ich fand das Konzept sehr verlockend, fürchtete aber gleich, dass es wenig praktikabel ist.

Denn dass ich selbst auch dazu neige, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen hungrig zu werden, will ich gar nicht abstreiten, wie gesagt, es ist das, was mich an meinem Körper am meisten ärgert. Was wäre das schön, wenn man das Hungergefühl mit vorausschauend planender Vernunft so regeln könnte, dass es einen nicht gerade dann überfällt, wenn man eigentlich etwas anderes vorhat – aber nix zu machen! Man muss also, sobald man einen längeren Aufenthalt im Freien vorhat, immer gleich seinen Rucksack packen, irgendwo einkehren ist ja nicht, selbst die Terrasse ist zu.

Aber bald, bald, bald, geben Sie die Hoffnung niemals auf, ist wenigstens diese verordnete Einschränkung vorbei und statt uns über „die da oben“ mit ihren verwirrenden und manchmal schwer verständlichen Verordnungen ärgern zu müssen, dürfen wir uns wieder einfach nur über uns selbst ärgern. Da das eine so wenig nützt wie das andere, können wir es auch gleich sein lassen und froh und dankbar sein, dass wir am Leben sind – Halleluja, in Ewigkeit, Amen.