Renates Kolumne: Jetzt mal im Ernst

| Renate Dehner
Wer so freundlich ist, diese Kolumne zu lesen, vielleicht sogar schon über Jahre, weiß, dass ich mich bemühe, meinen Humor nicht zu verlieren und den Dingen, die mich beschäftigen, eine leichte, mit etwas Glück sogar witzige Seite, abzugewinnen. Diesmal müssen Sie sich auf ernstere Töne gefasst machen. Ich schreibe das vorweg, weil es ja Mode geworden ist, vor allem möglichen zu warnen, bevor man Lesern oder Zuschauern etwas zumutet, was deren arme Seelchen verstören könnte. Ich weiß zum Beispiel aus absolut zuverlässiger Quelle, dass sich an einem großen deutschen Opernhaus eine Zuschauerin nach der Vorstellung beschwert hat, dass sie nicht vorher gewarnt wurde, dass es in der betreffenden Oper zu Gewalt und Tod kommt.
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Also Vorsicht, aufgepasst, was ich behandle, ist nicht zum Lachen. Es geht letzten Endes um ein Thema, das mir zunehmend bitter aufstößt: Dieses Opfer-Getue, das überhandgenommen hat. Ich weiß, dass ich nicht die Erste bin, die sich dazu äußert, aber andererseits gibt es eh nichts Neues unter der Sonne, kann also auch ich meinen Senf dazu geben. Ich werde allerdings erst mal ein bisschen ausholen, um zum Punkt zu kommen.

Ich fange mit der denkbar schlimmsten narzisstischen Kränkung an, die uns Menschen angetan wird, mit dem Tod. In einer wunderbaren Karikatur, die ich an meinen Küchenschrank hängen habe, sieht man einen Grabstein, auf dem eingemeißelt ist: „Warum ich?“ Das trifft die Sache hervorragend, finde ich. Zwar dämmert jedem irgendwann: „Oh, ich bin ja gar nicht unsterblich“ - spätestens so mit Ende dreißig. Doch zu diesem Zeitpunkt lässt es sich noch relativ leicht sagen: „Ich habe über den Tod nachgedacht, doch, ich habe mich echt mit dem Gedanken auseinandergesetzt. Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Aber wie sieht die Sache aus, wenn man davon ausgehen muss, dass diese Ereignis tatsächlich in absehbarer Zeit eintreten wird? Dann erfordert es Mut und Offenheit, sich mit dem Tod zu beschäftigen, denn es geht ans Eingemachte, wie es so schön heißt - nicht „der“ Tod, irgendein Tod, sondern der eigene. Auf diese Gedanken bin ich gekommen, weil einer meiner liebsten Freunde seit einiger Zeit mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit leben muss. Durch die Gespräche mit ihm ist mir sehr deutlich geworden, welch eine Verschwendung köstlicher Lebenszeit es ist, wenn man sich selbst das Leben unnötig schwer macht.

Ich bilde mir nicht ein, durch meine Gedanken zu dem Thema jemandes Leben erleichtern zu können. Jemandes Leben leichter machen zu wollen, das ist ein ganz schön hoher Anspruch - vermessen vielleicht sogar. Wie käme ich dazu? Aber vielleicht mag der eine oder andere doch mal darüber nachdenken, wie es damit im eigenen Leben bestellt ist.

Es gibt eine Beobachtung, die mich immer wieder ungläubig staunen lässt: Wie viele Menschen sich ihr Leben selbst schwermachen. Ich weiß, dass fremde Probleme immer viel leichter zu lösen scheinen, als die eigenen. Nein, ich möchte nicht die Probleme anderer Menschen haben! Ich weiß, dass die schwerwiegend sind. Es geht nicht darum, die Probleme der anderen in irgendeiner Weise zu bewerten. Es geht um die Beobachtung, dass Menschen erstens erstaunlich häufig dazu neigen, sich den Lebensgenuss selbst madig zu machen und zweitens erstaunlich selten bereit sind, Hilfen anzunehmen oder anzuerkennen, dass nicht die anderen sie zu Opfern machen, sondern sie selbst ihre „Verletztheiten“ hätscheln und bereit sind, alles übel zu nehmen, was man, bei nebligem Wetter und schlechter Sicht als Kränkung wahrnehmen könnte.

Ein Zitat von Bertold Brecht soll in die Richtung weisen, die ich meine: „Ich verachte die Menschen, die im Unglück sind.“ Ich maße mir nicht an, zu wissen was genau Bert Brecht damit gemeint hat, aber ich verstehe es so: Das Leben ist ein Geschenk, das größte, das es gibt, und wer „ist“, der ist auch „glücklich“. Wer sich lieber in seinem realen oder vermeintlichen Unglück suhlt, nur weil das Leben nicht so läuft, wie er sich das vorgestellt hat, statt sich selbst die Möglichkeit des Glücklichseins zu verschaffen, indem er sich Klarheit über das Geschenk des Lebens verschafft, der verdient vielleicht durchaus ein bisschen Verachtung.

Bevor jetzt alle empört auf mich einprügeln: Selbstverständlich gibt es grauenvolle und unerträglich schmerzhafte Erfahrungen oder Lebensumstände, die den Namen „Unglück“ mehr als verdienen. Darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, ob jemand mit Fleiß in seinem Unglück verweilt, ohne den Versuch zu machen, daran etwas zu ändern - und zwar nicht nur äußerlich, das natürlich auch, aber ganz besonders in seiner inneren Haltung.

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ - stimmt! Und Aufklärung über das Dasein ist in meinen Augen der Ausgang des Menschen aus seinem selbstverschuldeten Unglück. Selbstverschuldet ist dieses Unglück, als es nicht auf einem Mangel an Denkvermögen beruht, sondern auf einer Weigerung, dasselbe zu gebrauchen. Um es ohne Kant auszudrücken: Menschen, die mit ihrem Lebensüberdruss, ihrem Leiden am Leben an sich, ihrer angeblichen Unfähigkeit, all die Zumutungen des Lebens, der Umstände und ihrer unvollkommenen Mitmenschen zu ertragen, sich selbst das Leben schwermachen und sich dabei noch ganz besonders sensibel und von edler Gemütsart beseelt vorkommen, haben ganz einfach ein Defizit im Gebrauch ihres Denkvermögens. Bei einer klaren Analyse müsste ihnen deutlich werden, dass es sie schon gar nicht mehr gäbe, wenn sie so sehr am Leben verzweifelten, wie sie es sich selbst einreden. Da sie aber am Leben hängen, wie ihr Noch-Vorhandensein ganz zweifelsfrei beweist, sollten sie ihren Verstand dazu benutzen, ihrem Unglück ein Ende zu machen.

Und was nun die Opfer-Haltung angeht: Ein Opfer kann nur leiden und er-leiden, es ist ausgeliefert, unfähig, etwas zu ändern, machtlos. Wenn man wirklich will, dass etwas besser wird, im eigenen Leben oder im Leben aller Menschen, muss man wohl oder übel das Opfer sein hinter sich lassen und seinen Verstand einschalten.