Sind Sie Opfer, Retter oder Angreifer, wenn es zu Hause rund geht? - Psychologische Spiele aus der Transaktionsanalyse
| Alice DehnerAls in der Transaktionsanalyse die Theorie der psychologischen Spiele entwickelt wurde, hat man erkannt, dass es in jedem Spiel drei sehr klar voneinander unterscheidbare Rollen gibt, die die Spieler einnehmen können, nämlich „Opfer“, „Retter“ und „Angreifer“ (in der Grafik nach alter TA-Diktion „Verfolger“ genannt). Sich anzuschauen, aus welcher Rolle heraus jeder der Mitspieler agiert und in welche er hineinwechselt, ist eine gute Möglichkeit, Spiele zu analysieren. Außerdem lohnt es sich, zu erkennen, welche Rolle der andere für einen selbst vorgesehen hat: Soll man in die Retterrolle schlüpfen, soll man provoziert werden, den Angreifer zu geben, oder ist ein Retter auf der Suche nach einem Opfer, das es zu retten gilt?
Wie kann man dies nun auf die Situation anwenden, die im letzten Newsletter geschildert wurde? Damit Sie nicht den letzten Beitrag hervorkramen müssen, will ich hier noch einmal das Beispiel anführen, um aufzuzeigen, wie die verschiedenen Rollen verteilt sind:
Anna braucht eigentlich absolute Ruhe, denn sie muss sich sehr konzentrieren, um die dringende Arbeit zu Ende zu bringen, die ihr Chef schon zweimal angemahnt hat. Ihr Mann Paul, ebenfalls im Home-Office, telefoniert allerdings laut im Nebenzimmer, die jüngere Tochter saust mit ihrem Bobby-Car um den Tisch im Wohnzimmer, an dem Anna arbeitet, und dann kommt auch noch die ältere Tochter und will jetzt und sofort etwas zu essen haben. Anna versucht zunächst ganz freundlich, sie auf später zu vertrösten: „Kannst du noch eine halbe Stunde warten? Dann bin ich soweit und mach dir was.“ Die Tochter mault: „Ich habe aber jetzt Hunger!“ Anna, nun schon ungeduldiger, sagt streng: „Es tut mir leid, aber du musst noch warten! Ich habe zu arbeiten!“ Die Tochter wird heftiger: „Du immer mit der blöden Arbeit! Nie hast du Zeit für mich!“ Anna wird laut: „Kannst du mal mit dem Theater aufhören! In der halben Stunde wirst du schon nicht verhungern!“ Die Tochter fängt an zu heulen: „Mir tut aber schon der Bauch weh vor Hunger!“ Davon lässt sich auch die kleine Tochter anstecken, die jetzt ebenfalls losbrüllt: „Ich habe auch Hunger und Durst!“ Bei Anna reißt endgültig der Geduldsfaden: „Verdammt und zugenäht, was ist denn das für ein Irrenhaus! Ich halte das nicht mehr aus! Ich muss diesen verdammten Bericht schreiben und ihr haltet jetzt eure Klappen und verschwindet ins Kinderzimmer, ich will euch nicht mehr sehen! Und wenn ich noch einen Ton höre, dann setzt es was.“ Nun kommt Paul ins Zimmer: „Was ist das denn für ein Radau hier? Kannst du nicht EINMAL ruhig mit den Kindern reden? Ich muss schließlich dringende Telefonate erledigen. Das ewige Geschrei hier ist ja peinlich.“ Anna geht auf Paul los…
Annas ältere Tochter beginnt ein Opfer-Spiel, indem sie sich als so hungrig darstellt, dass sie keine halbe Stunde mehr warten kann. Sie will von Anna gerettet werden und wechselt, als Anna darauf nicht eingeht, in die Angreifer-Rolle „Nie hast du Zeit für mich!“ Das ist ein harter Vorwurf, den Anna nicht unbeantwortet lassen kann, es ist schließlich ein „schmackhafter“ Köder für sie, denn sie will nicht als schlechte Mutter dastehen. Doch statt endlich in die für sie vorgesehene Rolle des Retters zu schlüpfen, ergreift Anna nun ebenfalls die Verfolger-Rolle. Das bringt ihren Mann Paul ins Spiel, der einerseits die Retter-Rolle für seine Kinder einnimmt, sich Anna gegenüber aber ebenfalls als Angreifer präsentiert.
Was lässt sich Allgemeines über die verschiedenen Rollen sagen?
Die Opferrolle zeichnet sich dadurch aus, dass das Opfer im psychologischen Spiel eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten ausblendet und sich klein macht oder zumindest kleiner und unfähiger, als es tatsächlich ist. Ein typischer „Opfer“-Satz wäre zum Beispiel: „Sprich du mit ihm, ich kann einfach nicht „nein“ sagen!“, wenn es darum geht, ein unangenehmes Gespräch an jemand anderen abzutreten. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand immer nur bei dem Wörtchen „Nein“ eine spontane Stimmbandlähmung erleidet, also müsste der Satz ehrlicherweise heißen: „Es ist mir entsetzlich unangenehm, ihm seine Bitte abzuschlagen, also übernimm du das bitte für mich!“ Wenn man es so formuliert, ist man allerdings kein Opfer mehr und kann deswegen auch nicht an den „Retter“ im anderen appellieren. Ein „Opfer“ macht sich klein und hilflos, das ist der Köder für den „Retter“.
Was unterscheidet die Retterrolle in einem psychologischen Spiel von jemandem, der einfach gern hilfsbereit ist? Beim Retter entsteht ein Gefühl von „Ich muss helfen/ich darf ihn oder sie nicht hängen lassen“ und nicht „Ich will helfen.“ Er besetzt die Retterrolle, weil er auf jedes Anzeichen von Hilflosigkeit sofort reagiert und glaubt, etwas tun zu müssen. Beim ersten Hinsehen erscheint die Rolle des Retters ganz sympathisch: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut und der Retter übertreibt das halt ein bisschen, aber doch nur zum Wohle der anderen! Viele „Retter“ haben in ihrer Kindheit gelernt, dass sie nur akzeptiert wurden, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Deshalb haben sie den Reflex entwickelt, immer zur Stelle zu sein, wenn sie den Eindruck haben, jemand bräuchte Unterstützung.
Die Rolle des Retters hat jedoch auch noch eine andere Facette: Der Retter übernimmt in aller Regel die Sichtweise, dass das Opfer unfähig, klein und hilflos ist, sonst würde er es nicht retten.
Dass Retter andere aktiv klein machen können, haben Sie vielleicht auch schon einmal zu spüren bekommen. Vielleicht kennen Sie ja die Situation, dass jemand Sie retten wollte, obwohl Sie gar nicht darum gebeten hatten. Wenn Sie schon erlebt haben, dass man Ihnen Hilfe, die weder gebraucht noch erwünscht war, geradezu aufgedrängt hat, erinnern Sie sich vielleicht auch an Ihre Gefühle dabei: Man fühlt sich für gewöhnlich abgewertet, klein gemacht, für blöd erklärt – etwas, das man nicht erlebt, wenn es sich um einen Fall von echter Hilfsbereitschaft handelt. Dafür ist man in aller Regel einfach nur dankbar. Ihre eigenen Gefühle sind eigentlich immer ein zuverlässiges Anzeichen dafür, ob Sie es mit einem Spielangebot zu tun haben oder nicht. Ein schlechtes Gefühl ist ein nützliches Warnsignal. Auf jeden Fall sollten Sie hellhörig werden, wenn Sie sich unangenehm berührt oder manipuliert fühlen.
Die Angreiferrolle ist dadurch gekennzeichnet, dass der Angreifer sein Opfer in aggressiver Weise klein macht. Der Angreifer bedient sich eines ganzen Arsenals an Vorwürfen, Unterstellungen, Schuldzuweisungen und spart dabei auch nicht an verletzender Ironie. Um es dem anderen so richtig zu geben, scheut er sich auch nicht, die ältesten Kamellen herauszukramen: „Und wenn ich nur daran denke, wie du damals vor zwanzig Jahren…“ Angreifer versuchen häufig, ihre Opfer zu erschrecken oder an die Wand zu drücken, denn nur dann fühlen sie sich sicher, und wenn das nicht gelingt, wechseln sie manchmal selbst in die Opferrolle.
Aber auch beim Angreifer gilt es zu unterscheiden: Nicht jeder Mensch, der gerade seinem Ärger, vielleicht auch lauthals, Ausdruck verleiht, ist ein Angreifer. Und auch nicht jede Kritik an einem anderen ist ein Angreiferspiel. Angreifer erkennt man ganz gut daran, dass sie nicht das Verhalten eines anderen kritisieren, sondern die ganze Person in Bausch und Bogen aburteilen. Statt zu sagen: „Es ärgert mich, wenn du mich warten lässt!“, erklären sie dem anderen: „Du bist total unzuverlässig!“ Das ist ein großer Unterschied, denn damit wird die Person bewertet und nicht deren Verhalten. Da ein Angreifer dabei auch meistens noch übertreibt und seine Rede mit den beliebten Absolutbegriffen würzt: „Nie kann man sich auf dich verlassen/immer machst du so einen Mist/du bist ein kompletter Idiot/diese Dummheit ist typisch für dich“, löst er bei seinem Spielpartner genau die Verteidigungsreaktionen aus, die das Spiel noch verschärfen. So wie im obigen Beispiel der Vorwurf „Kannst du nicht EINMAL ruhig mit den Kindern reden“.
Der Trick beim Drama-Dreieck, der ein Psychologisches Spiel ganz besonders unangenehm macht, besteht darin, dass die Rollen für gewöhnlich blitzschnell gewechselt werden. Damit endet zwar häufig das Spiel, jedoch nicht, ohne dass jede Menge schlechte Gefühle zurückbleiben – und zwar bei jedem Mitspieler. Anders als bei „klassischen Spielen“, an deren Regeln sich Psychologische Spiele anlehnen, gibt es bei diesen nämlich nur Verlierer. Auch wer als vermeintlicher „Sieger“ vom Platz geht, fühlt sich hinterher für gewöhnlich schlecht.
Was kann man tun?
Um nicht mehr nolens volens in Spiele hineingezogen zu werden, ist es hilfreich, unterscheiden zu lernen, wann ein psychologisches Spiel beginnt und wann nicht. Wenn Sie darauf achten, werden Sie die feinen Signale bald reflexartig, ohne besonders darüber nachdenken zu müssen, erkennen, denn Ihre Wahrnehmung wird immer besser werden. Wenn man gelernt hat, ein Spiel mittels des Drama-Dreiecks zu analysieren, kann man wesentlich leichter damit umgehen: Sei es, dass man gar nicht erst in ein Spiel hineingezogen wird, sei es, dass man schneller den Ausstieg findet. Entscheidend dafür sind zwei einfache Fragen:
„Welche Rolle spielt mein Gesprächspartner gerade?“
„Welche Rolle ist denn für mich vorgesehen?“
Wenn es Ihnen gelingt, diese angebotene Rolle nicht zu akzeptieren, entkommen Sie dem Spiel, ohne sich hinterher schlecht zu fühlen.
Bei potenziellen Opfern zum Beispiel werden Sie sich bei einer Bitte um Hilfe automatisch fragen: „Kann er das wirklich nicht oder signalisiert er nur, dass er mich gern als Retter hätte?“ Wenn Sie zum Schluss kommen, dass sich da jemand zum Opfer macht, lehnen Sie die Retterrolle ab, indem Sie Ihren Gesprächspartner freundlich, aber bestimmt auf seine vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen verweisen. Um nicht doch noch in ein Spiel zu geraten, dürfen Sie Ihrerseits nicht in die Angreiferrolle schlüpfen, wenn Sie die angebotene Retterrolle zurückweisen – deshalb unbedingt freundlich! Aber auf jeden Fall klar und bestimmt!
Wenn Sie einem Opfer ohne Aggression, Ironie oder Häme sagen: „Ich bin überzeugt davon, dass du das ohne meine Hilfe hinkriegst, erinnere dich doch einfach daran, wie du es das letzte Mal gemacht hast!“ oder „Versuch es doch einfach mal so, wie du denkst, dass es gehen könnte!“ oder etwas ähnliches, das ihn oder sie ermuntert, ihr Problem allein zu lösen, sind Sie kein egoistischer Unmensch.
Ebenso wie die Retterrolle, können Sie auch die Opferrolle ablehnen, wenn Sie merken, dass das die Rolle ist, die Ihr Gesprächspartner für Sie vorgesehen hat. Wenn Sie zwischen Rettern und wirklich wohlmeinenden Menschen unterscheiden lernen, werden Sie schnell merken, dass Retter Ihnen immer in gewisser Hinsicht die Verantwortung abnehmen wollen: Der Retter bestimmt, was das Beste für Sie ist.
Um diesen mehr oder weniger gut gemeinten Entmündigungsversuchen wirksam zu entkommen, nehmen Sie es ernst, wenn Sie bei einer angebotenen Hilfe oder Unterstützung ein ungutes Gefühl beschleicht. Um zu erkennen, ob da ein Retter am Werk ist, hilft Ihnen die Frage: „Womit und wie soll ich gerade klein gemacht werden?“ Wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, wissen Sie, dass es Zeit ist, sich abzugrenzen.
Auch hier heißt es, die angebotene Rolle als Opfer abzulehnen, ohne dem Retter weh zu tun, also ohne selbst in die Angreiferrolle zu verfallen. Sagen Sie freundlich „Nein, danke!“ und bleiben Sie auch dann freundlich, wenn der andere die Ablehnung nicht zur Kenntnis nimmt und in seinen Hilfsangeboten insistiert. Sie können das zum Beispiel tun, indem Sie beschreiben, was Sie stört, und zwar sachlich, wertungsfrei und ganz konkret.
In diesem Fall helfen die altbekannten Feedbackregeln:
- Beschreiben Sie so konkret wie möglich, was Sie am Verhalten des anderen stört
- Beschreiben Sie Ihrem Gesprächspartner die Auswirkungen seines Verhaltens
- Sagen Sie ihm, was Sie stattdessen von ihm wollen.
Diese einfachen Regeln sind übrigens in allen möglichen Kommunikationssituationen äußerst hilfreich.
Die Rolle als Opfer hat jedoch nicht nur der Retter für einen vorgesehen: Fast genauso oft wie dem Retter begegnet man dem Angreifer. Das sind Menschen, die sofort heftig werden, die glauben, alle ihre Forderungen oder Anliegen mit möglichst hohem Nachdruck durchsetzen zu müssen, die Kritik nicht sachlich äußern können und entweder laut oder sehr sarkastisch werden oder beides. Hinter diesem Verhalten kann ein einfacher Lernprozess stecken: Ein Kind hat eines Tages die Erfahrung gemacht, dass etwas, was zunächst verboten war, nach einem heftigen Wutanfall doch noch erlaubt wurde. Natürlich setzt es diesen erfolgreichen Trick beim nächsten Mal, wenn es etwas durchsetzen will, wieder ein. Wenn das immer und immer wieder klappt, ist es irgendwann Standard im Verhaltensrepertoire, denn der Mensch hat gelernt: Wenn ich nur aggressiv genug auftrete, bekomme ich, was man mir ansonsten verweigert.
Wenn Sie vor einem solchen Auftreten nicht einfach kuschen wollen, bedeutet das leider, dass Sie vor der Herausforderung stehen, mit diesem Verhalten umzugehen, ohne in die Opferposition zu kommen - und ohne zum Gegenangriff überzugehen, wenn sie nicht wollen, dass die Fetzen fliegen. Am besten schafft man das, indem man ruhig und gelassen bleibt – dabei hilft einem vielleicht die Überlegung, dass das dargebotene Verhalten tatsächlich oft an die Trotzphase eines Dreijährigen erinnert. Auf diese Weise lassen sich hoffentlich auch die Provokationen ignorieren, mit denen der Angreifer nicht geizt. Man sollte solche Überlegungen bezüglich der Trotzphase und so weiter aber selbstverständlich für sich behalten, sonst ist man ganz schnell in ein neues Spiel verwickelt! Geht man jedoch ruhig und sachlich auf jemanden ein, der gern in die Angreiferrolle schlüpft, ohne sich von Wutausbrüchen beeindrucken zu lassen, hat dieses Verhalten bald keinen Sinn mehr und wird aufgegeben. Wenn man sehr ruhig ist und es sich zutraut, kann man auch die oben geschilderten Feedbackregeln zum Einsatz bringen.